Rezension
reformierte presse Nr. 28/29 11. Juli 2008
»Charles Wesley ist der kleine Bruder von John Wesley, dem Begründer der Methodistenbewegung, aber im Gegensatz zum älteren ist der jüngere ausserhalb seiner Kirche kaum bekannt. Und dies, obwohl er mehrere Tausend Gedichte und Lieder geschrieben hat, Tausende Predigten hielt und so alles in allem nach Ansicht bedeutender Forscher einen weit grösseren Einfluss auf die Frömmigkeit innerhalb wie ausserhalb seiner Kirche gehabt haben dürfte.
Und von diesem Charles Wesley ist nun ein ganz kleines Büchlein mit sieben seiner Predigten erschienen. Das mag paradox klingen in Anbetracht seines ungeheuren Lebenswerkes, rührt aber daher, dass Charles Wesley nur ganz zu Beginn seiner Predigttätigkeit in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts schriftliche Notizen verwendete, denn nach anfänglichem Zögern merkte er bald, dass er eine grosse Begabung in der freien Rede besass, so dass er fortan keine schriftlichen Unterlagen mehr benötigte beziehungsweise hinterliess. Wenn er zu predigen hatte, betete er, schlug die Bibel auf und sprach dann über die Stelle, die ihm auf der Seite gerade in die Augen sprang, denn er war der Überzeugung, dass anhand dieser — für uns etwas naiv anmutenden — Methode der Heilige Geist ihn jeweils über das sprechen liess, wessen seine Zuhörer bedurften, und nicht nur über das, was ihn persönlich gerade beschäftigte. Charles Wesley musste sich den Vorwurf des frömmelnden Biblizismus nicht gefallen lassen, denn er war ein exzellenter Theologe, nach allen Regeln der Kunst ausgebildet, zum anglikanischen Pfarrer ordiniert, sehr belesen, aüsserst differenziert, ein glänzender Redner, ein hochbegabter Dichter und im Vergleich zu den meisten seiner Kollegen (bis in die Gegenwart hinein) mit der Bibel tatsächlich vertraut. So kann es nicht verwundern, wenn er weithin als Prediger beliebt und berühmt war, und er machte keinen Unterschied, ob er ov racht oder vor Tausenden von Zuhörern sprach. Weder das eine noch das andere kam selten vor.
Mitreissend und profund — All diese Eigenschaften zeichnen sich bereits in den vorliegenden, frühen Predigten ab. Sie sind von mitreissender Rhetorik, klar und deutlich ausgearbeitet, weisen ein profundes Bibel-, Philosophie- und Literaturwissen auf und orientieren sich an einem pietistischen, exklusiven Christozentrismus, wie er typisch ist für die Methodistenbewegung. Im Vergleich mit zeitgenössischen Predigern schwelgt Wesley weder in moralischen Allgemeinplätzen, noch bemüht er Hörerinnen und Hörer mit abstrakter Apologetik oder pseudo-aufklärerischer Bildung.
Wie etwa die Predigt über die Ehebrecherin (Joh 8) zeigt, setzt sich Wesley intensiv mit dem Text auseinander, exegesiert ihn, bringt ihn in Zusammenhang mit dem gesamten biblischen Zeugnis und überführt ihn spirituell tiefschürfend und seelsorgerlich feinfühlig in die Gegenwart. Der Fachmann erkennt in seinem Vorgehen eine äusserst differenzierte Hermeneutik. Und gleichzeitig wird anhand der Beispiele deutlich, weshalb Wesley als Prediger so grossen Zulauf fand: Er belässt es nie bei der historischen Analyse oder der moralischen Anwendung, sondern versucht, seine Hörerinnen und Hörer für das Evangelium zu gewinnen – oder sie ihrer eigenen Halsstarrigkeit zu überführen.
Es sind immer "Bekehrungspredigten"; auch wenn er vor kirchlichem Publikum spricht, die Hinwendung zu Christus ist immer Thema, und Wesley scheut sich nicht, etwa in der Predigt über die Ehebrecherin, seine Zuhörerinnen und Zuhörer aus eindringlichste daraufhin zu befragen, inwiefern sie sich von den anklagenden Pharisäern unterscheiden. Nirgends vergleicht er sie mit der Sünderin, und gerade das macht seine Predigten so eindrücklich und vorbildlich: Sie sind nicht moralisch, und gerade dann nicht, wenn die Moralschiene grösseren "Erfolg" garantieren würde. Wesley selbst erlebte zu Beginn seiner Tätigkeit eine moralisch-gesetzliche Phase, aus der er sich (zusammen mit seinem Bruder) zum Evangelium der Freiheit bekehrt hat. Er weiss, wovon er spricht – oder besser: wovon er nicht spricht, und das merkt man auf Schritt und Tritt.
Tiefschürfendes Leseerlebnis – Das kleine Büchlein – eingeleitet von Bischof i.R. Walter Klaiber, selbst ein grosser Kenner der Materie, und ergänzt mit einer Kurzdarstellung über Leben und Werk Charles Wesleys – erlaubt also einen sehr eindrücklichen Einblick in die Gedanken- und Glaubenswelt eines der grössten Prediger und Theologen des 18. Jahrhunderts, und es macht deutlich, weshalb der Methodismus unter der Leitung der Wesley-Brüder eine so erfolg- und einflussreiche Bewegung war. Für Kenner ein wahrer Leckerbissen, für Laien ein teifschürfendes Leseerlebnis, und für die rund 80 Millionen Methodisten, die es heute weltweit gibt, ein wichtiges Lehrstück über ihre eigene Tradition, gerade auch in Hinblick auf die ebenso klare wie wichtige Unterscheidung zwischen befreiendem Evangelium und knechtendem Gesetz.«
Christoph Schluepp