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Rezension

Archiv für Liturgiewissenschaft, Jahrgang 62/63, 2020/2021

Auch wenn es sich bei den Gesprächen zwischen Vertretern der Freikirchen und der röm.–kath. Kirche nicht um einen offiziellen ökumenischen Dialog handelt, bietet die Dokumentation des siebten dieser Symposien wichtige Einsichten. Winfried GEBHARDT, Jeder Katholik ein Sonderfall? Identität aus soziologischer Sicht im Blick auf die katholische Kirche (9–30), erläutert, dass ein grundsätzlicher Unterschied zwischen gelehrter und gelebter Religion existiert, der aus der Notwendigkeit der individuellen Aneignung resultiert. Die spätmodernen Prozesse der Individualisierung und Deinstitutionalisierung bestimmen heutiges religiöses Verhalten und führen zu einer wachsenden Pluralität von (auch synkretistischen) Sinnstiftungsangeboten und Wahrheitsansprüchen. Zwar ist die Binnendifferenzierung immer ein Kennzeichen der kath. Kirche gewesen, neu ist aber, dass eine Integration der Richtungen kaum noch gelingt, höchstens bei religiösen Events. Das Katholische als weitgehend anerkannte institutionelle Leitidee findet keine Akzeptanz mehr, sondern Moral- und Lebenspraxis werden auch von Katholiken weitgehend als Experiment angesehen, das emotional und pragmatisch zu bewältigen ist. Ralf DZIEWAS, Konfessionelle Identität in Freikirchen. Eine soziologische Analyse ihrer Entstehung und ihrer Wandlungsprozesse (31–66), kennzeichnet die verschiedenen Wurzeln der Freikirchen im dt. Sprachraum, die etwa in der Betonung der persönlichen Glaubensfreiheit, einer individuellen Frömmigkeit, dem Charakter einer Freiwilligkeitskirche und sozialdiakonischen sowie missionarischen Aktivitäten gewisse gemeinsame Dimensionen besitzen, zugleich aber eigene Frömmigkeitsstile und Institutionen der theologischen Ausbildung aufweisen. Die Großkirchen abgrenzenden Praktiken und Bezeichnungen verlieren im Laufe des 20. Jh. ebenso an Bedeutung wie die Unterschiede zwischen den einzelnen Freikirchen. Die aktuellen Konfliktlinien verlaufen innerhalb der Freikirchen nicht mehr entlang der Konfessionsgrenzen, sondern mitten durch diese hindurch: »Identitäten in Glaubensfragen werden in der medial vermittelten Öffentlichkeit der Moderne über Lebensstile konstruiert, nicht mehr über Kirchenzugehörigkeit« (61). So kann freikirchliche Identität heute zu einer Lebensabschnittsidentität werden: Eher wird die Konfession gewechselt als der Frömmigkeitsstil. Oliver PILNEI, Baptistische Identität im Wandel. Die aktuelle Diskussion um die Taufe (BALUBAG) (67–88), stellt das Papier »Voreinander lernen – miteinander glauben« der hinter der Abkürzung stehenden Bayerischen Luth.-Baptist. Arbeitsgruppe vor. Baptist. Taufidentität speist sich nicht aus einer umfassenden oder gar einheitlichen Tauftheologie, sondern aus der Praxis, dass mündige Christen ihren Glauben bekennen, auf dieses Bekenntnis hin getauft werden und so sichtbares Glied der Gemeinde werden. Das Papier beinhaltet eine Absage an dieses »Anthropologische Taufverständnis« und versteht die Taufe mehr als vorrangige Heilszusage Gottes. Eine am engl. Baptisten Paul S. Fischer orientierte Sicht der Initiation als eines zeitlich unterschiedlich ausgedehnten Aneignungsprozesses ermöglicht, die Taufe zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens zu verorten, ohne eine Form als defizitär anzusehen. Die quasi vollzogene Gleichstellung von Säuglings- und Gläubigentaufe stößt auf baptist. Seite auf Kritik. Für das Plädoyer, den dogmatischen Grenzfall der Säuglingstaufe nicht zum evangeliumsgemäßen Normalfall zu deklarieren, werden auch Aussagen von Walter Kasper herangezogen. Markus IFF, Identität und Reform aus freikirchlicher Perspektive (89–115), sieht die freikirchlichen Gemeinden in der Spannung zwischen einem theologisch bestimmten und einem modernen, subjektbezogenen Freiheitsbegriff stehen. Gerade weil die Gewissensfreiheit eine ihrer Grundlagen bildet, fällt es schwer, die autonomen Gemeinden zusammenzubinden. Die Freikirchen stehen vor der Herausforderung, sich über ihr Selbstverständnis als Kirchen der Reformation zu verständigen und ihre Identität stärker im Christusgeschehen zu verankern. Wolfgang THÖNISSEN, Christliche Identität. Identität und Reform in katholischer Perspektive (117–140), benennt zunächst die Spannung zwischen dem Bekenntnis zur Einheit der Kirche Jesu Christi und der faktischen Existenz getrennter Kirchen und Gemeinschaften. Während ein Konfessionalismus beharrend wirkt, ermöglicht die Bereitschaft zur Umkehr, die Konfessionalität nicht aufzugeben und dennoch in der Suche nach Wiederherstellung der Einheit voranzuschreiten. Johannes OELDEMANN, Umkehr als Wesensmerkmal christlicher Identität. Die ökumenischen Impulse der »Groupe des Dombes« für eine kritische Reflexion des kirchlichen Selbstverständnisses (141−164), stellt die sich selbst erneuernde Gruppe kath. Priester und evang. Pastoren vor, die die Resultate ihrer Gespräche in verschiedenen Dokumenten publiziert hat. Die Schrift Für die Umkehr der Kirchen, 1991, bietet eine grundlegende Unterscheidung zwischen christl. Identität, kirchlicher Identität und konfessioneller Identität; letztere ist eine bestimmte Weise, christl. und kirchliche Identität zu leben. Die notwendige konfessionelle Umkehr erfordert die Reinigung des eigenen Erbes und die Bereitschaft, sich vom Erbe der anderen bereichern zu lassen. Bezogen auf kath. Kirche und Freikirchen sieht Vf: momentan aber eher beharrende Kräfte am Werk Andrea LANGE, Heilung und Erinnerung Erfahrungen aus dem lutherisch–mennonitischen Dialog (165–182), weist auf Probleme hin, wie die Verdammung der »Wiedertäufer« in der Confessio Augustana, die bis heute luth. Lehrgrundlage ist, sowie auf die mennonitische Betonung der täuferischen Märtyrergeschichte, die die Opferrolle verfestigt. Doch können Verletzungen der Vergangenheit ausgesprochen und auf diesem Weg geheilt werden. Burkhard NEUMANN, Was ist christlich? Überlegungen anhand zweier Einführungen in das Christentum (183–208), vergleicht Gerhard EBELINGs Das Wesen des christlichen Glaubens. 1959, und Joseph RATZINGERs Einführung in das Christentum. 1968, als Repräsentanten zweier konfessioneller und hermeneutischer Ansätze. Trotz bleibender Unterschiede zeigen beide erhebliche Gemeinsamkeiten in der Bestimmung des Christlichen auf, die Impuls sein können, heute erneut über Identität, Gemeinsamkeit und Differenzen beider großer Konfessionen ins Gespräch zu kommen. Burkhard NEUMANN – Jürgen STOLZE, Versuch einer Zusammenfassung (209–214), machen noch einmal auf den dynamischen Charakter des Identitätsbegriffs aufmerksam. Die intensive Begegnung der Gläubigen verschiedener Kirchen in den letzten Jahrzehnten hat die kirchlichen Identitäten verändert. Der theologische Hintergrund der Öffnung, der allgemeine Heilswille Gottes, ist jedoch stärker in die Überlegungen einzubeziehen. Bernhard OLPEN, »Wer in Christus ist, ist eine neue Kreatur«. Morgenandacht zu 2 Kor 5,17 am 27. Februar 2014 (215–225), und Michael HARDT, »Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm«. Morgenandacht zu Lk 15,20b.21–24 am 28. Februar 2014 (227–231), geben nicht die Gottesdienste selbst wieder, sondern offensichtlich nur die Ansprachen. – Auch wenn dieser Dialog nicht im Fokus kirchlicher Aufmerksamkeit steht, bietet er wichtige Impulse für die theologische Reflexion. Auffällig scheint mir, wie wenig die in den beiden ersten Beiträgen von soziologischer Seite gemachten Beobachtungen zum Wandel der kirchlichen Identitäten in den nachfolgenden theologischen Reflexionen aufgegriffen werden. Besonders die Einsicht, dass sich Identitäten an neuen Konfliktlinien ausbilden, während die bisherigen konfessionellen Abgrenzungen an Gewicht verlieren, kann verallgemeinert und muss stärker in der Diskussion berücksichtigt werden. Man darf der Frage nicht ausweichen, ob sich hier eine Dynamik zeigt, die zur Umwälzung der Konfessionslandschaft führen könnte.
Friedrich Lurz

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Christsein zwischen Identität und Wandel

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Christsein zwischen Identität und Wandel

Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven
Neumann, Burkhard/Stolze, Jürgen/Dziewas, Ralf/Gebhardt, Winfried/Hardt, Michael/Iff, Markus/Lange, Andrea/Oeldemann, Johannes/Olpen, Bernhard/Pilnei, Oliver/Thönissen, Wolfgang

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