Rezension
Museum Helveticum 78/2 (2021)
Trotz unaufhaltsamer Säkularisierung unserer Gesellschaft und steigender Zahl von Kirchenaustritten schafft es der Heiligenkult immer wieder als Thema in die Tagespresse, so in der neulichen Kontroverse um die französische Mystikerin Marthe Robin, so in Bezug auf die beidseitig engagiert geführte Debatte über Anwesenheit und Martyrium des Petrus in Rom (s. o. Zwierlein, Petrus in Rom [Berlin/New York, 22010]). Die vorliegende Göttinger Dissertation über die Beziehung von Hagiographie und Topographie dürfte demnach auf breiteres Interesse stossen, zumal sie leserfreundlich geschrieben ist und ein update in der interdisziplinären Forschung von Literaturwissenschaft und Archäologie darstellt.
Die Untersuchung konzentriert sich auf die Apostelfürsten Petrus und Paulus sowie auf Laurentius und Agnes, deren Verehrung als Märtyrer in schriftlichen und in materiellen Zeugnissen wie Sakralbauten und ikonographische Darstellungen fest mit Rom verknüpft ist Kommt hinzu Maria, die mit der Umwidmung des Pantheons zur Kirche S. Maria ad martyres im frühen 7. Jh. an die Spitze des Märtyrerkanons gelangte. Der Verf. geht es nicht um neue, sensationelle Entdeckungen auf diesen ergiebig erforschten Wissensgebieten. Das Interesse richtet sich vielmehr auf eine umfassende Analyse der Legendenbildung sowie auf die Interdependenz von Monumenten als Orte des Kultes und deren Niederschlag in den Märtyrerakten, in Weihepigrammen, im Liber pontificalis und Heiligenkalendern sowie in der Hymnik. Prominente Vertreter der zuletzt genannten Gattung sind Ambrosius und vor allem der Peristephanon liber des Prudentius. Die (kirchen-) politisch eminent wichtige Rolle des römischen Heiligenkultes manifestiert sich nicht bloss in den grossen Basiliken, welche Kaiser Konstantin für Petrus, Paulus, Laurentius und Agnes erbauen liess. Ab dem 4. Jh. wird sie auch deutlich sichtbar in der Ikonographie, so z.B. in der Darstellung von Petrus und Paulus als gleichrangige Apostel in den sog. Dominus legem dat Szenen und parallel dazu im ambrosianischen Hymnus XIII sowie bei Prudentius (Perist. XII). Eine ideologische Aneignung von Heiligenverehrung könnte man ferner in der westlichen Version der «Theotokos» (wie im Konzil von Ephesus 431 bestätigt) sehen, wenn die Gottesgebärerin gleichsam als Mitglied der kaiserlichen Familie gewandet als Regina Virginum dargestellt wird. Parallel zum Marienkult erweitert sich die Gemeinschaft der Heiligen, denn Voraussetzung der Verehrung ist nicht mehr das Blutzeugnis, sondern ein vorbildliches, makelloses Leben.
Für den Literaturhistoriker lehrreich sind die mehrfachen Ausführungen zur Legendenbildung: Nachweisen lassen sich neben Umarbeitungen auch der Einbezug weiterer Protagonisten (so etwa beim Martyrium des Laurentius) oder die Verlagerung auf eine andere Verweigerungshaltung, so bei der hl. Agnes. Ihre Weigerung, den heidnischen Göttern zu opfern, tritt allmählich zurück hinter der standhaft versagten Liebeswerbung, welche der Sohn des römischen Präfekten ihr entgegenbrachte, und der erfolgten Bestrafung durch Blossstellung vor einem Bordell. In diesem Licht erklärt sich die geläufige Darstellung von Agnes als keusche Jungfrau (αγνη), dazu begleitet von einem Lamm (agna).
Gelegentliche Redundanz in Beschreibung und Argumentation schadet der aufschlussreichen Studie nicht. Als interdisziplinäres Itinerar könnte sie den Leser gar zu einer wissenschaftlichen Pilgerreise nach Rom animieren.
Margarethe Billerbeck