Rezension
EmK Geschichte 41 (2020) Heft 1
Christoph Raedel hat mit dem zehnten Band der Reutlinger Theologischen Studien eine beeindruckende Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen vorgelegt, die ihn als exzellenten Kirchen- und Theologiegeschichtler und Frömmigkeitshistoriker zeigen. Die verschiedenen Beiträge decken dabei ein immens großes Spektrum ab: Vorn Poltergeist in Wesleys Elternhaus bis zu Grundfragen der theologischen Erkenntnislehre und den Herausforderungen der Globalisierung reicht der Bogen des Buches. Konstanten sind jedoch die gründliche Recherche, die lesefreundliche und oft spannende Darstellung auch entlegener Vorgänge und Entwicklungen und die reflektierte, vorsichtige Urteilsbildung. Beiträge zur methodistischen Theologie sind dabei nicht alle Artikel gleichermaßen, zu einer theologisch reflektierten Geschichtsdarstellung jedoch allemal.
Den Auftakt macht gleich der oben erwähnte Poltergeist. Raedel geht den Überlieferungen ebenso gründlich und kritisch nach wie den unterschiedlichsten Deutungsansätzen dieser und ähnlicher Phänomene. Auch wenn mir dabei Wesleys doch recht naive und voraufklärerische Einstellung zu Geistergeschichten etwas zu positiv beurteilt wird – es ist ein spannendes Kleinod der Geistes-Frömmigkeitsgeschichte.
Gleich drei Artikel nehmen die Entwicklungen des Methodismus von der Bewegung zur Kirche aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick, mit besonderer Betonung der amerikanischen Methodistenkirche im 19. Jahrhundert. Das Wechselspiel und Spanungsfeld zwischen Aufklärung und Erweckung wird anhand des Lebens von Jesse Jäckel, Prediger der Evangelischen Gemeinschaft in den USA kundig dargestellt und mit weitem Horizont in die weltweite Geistesgeschichte eingeordnet. Eine andere Untersuchung erkennt in der Frage nach dem Status von Kindern in der bischöflichen Methodistenkirche eine zentrale ekklesiologische Weichenstellung, die bis in aktuelle Debatten hinein wirkt: Will man vor allem Erweckungskirche oder zunächst einmal Nachwuchskirche sein? Noch etwas grundsätzlicher und auf die Gegenwart hin ausgezogen ist dieses Themenfeld in einem der wenigen neu geschriebenen Artikel »Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde«. Anknüpfend an die Troeltsch’sche Kategorisierung religiöser Gruppen als »Kirche« oder »Sekte« skizziert er die Entwicklung der EmK und ihrer Vorgängerkirchen spannenderweise weder als Geschichte des Abfalls noch als uneingeschränkt positive Befreiungserfahrung, sondern als in ihrem Wesen begründetes Dilemma: »Freikirchen sind qua ihrer Existenz Katalysatoren von Pluralisierungsprozessen in der westlichen Gesellschaft, indem sie Monopolansprüche ›etablierter‹ Kirchen aufbrechen; sie sind zugleich aber auch selbst der Resonanzraum von Pluralisierungsprozessen.« (S. 193) Die freikirchlich inhärente Tendenz zu Autoritäts- und Traditionskritik und zur lehrmäßigen Individualisierung stellt auch die Freikirchen selbst vor interne Zerreißproben, die unterschiedlich gut bewältigt werden können. Ein einfaches Lösungsmodell vermag natürlich auch Raedel nicht anzubieten und versucht es dankenswerterweise auch gar nicht.
Selten untersuchte Pfade schlägt der Beitrag »Die Zeichen der Zeit erkennen« ein. Vom entwicklungsoptimistischen Postmilleniarismus der Aufklärungs- und Erweckungszeit im 18. Jahrhundert wird die Entwicklung zur Durchsetzung der dispensationalistischen Entrückungslehre nach Darby aufgezeigt, speziell im deutschsprachigen Methodismus. Schön wäre hier noch die Rückbindung an die Wurzeln des optimistischen Chiliasmus beim späten Wesley gewesen, der anders als sein Bruder Charles eine sehr optimistische Eschatologie vertrat. Genauer zu überprüfen wäre auch die These Raedels, die Veränderung in der eschatologischen Perspektive käme primär aus einem enttäuschten Fortschrittsglauben. Denn der war in den westlichen Gesellschaften bis zum 1. Weltkrieg im Wesentlichen ungebrochen. Vielleicht verdankt sich der Dispensationalismus des 19. Jahrhunderts doch eher einer Neuentdeckung und Interpretation apokalyptischer Traditionen der Bibel als um eine Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Zwei Artikel zur Pfingstbewegung und Methodismus zeigen Linien auf, die heute oft in Vergessenheit geraten sind. Gemeinsame Wurzeln wie Konfliktgeschichten werden hier mit Tiefgang und hilfreicher Systematisierung aufgearbeitet. Gerne hätte ich hier noch einen dritten Artikel über die wechselhaften Entwicklungen Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts gelesen, auch unter der Fragestellung, wie gemeinsames Lernen zwischen Methodismus und Pfingstkirchen heute geschehen kann und geschieht.
Neben diesen zahlreichen eher kirchengeschichtlich orientierten Artikeln beschäftigen sich auch einige Beiträge mit grundlegenderen theologischen Fragestellungen, ohne dass die solide historische Verankerung, die für Raedels Arbeiten typisch ist, je vergessen wird. Der fundamentalste dieser Beiträge ist sicher »Die Autorität der Bibel«. Raedel zeichnet hier das Schriftverständnis John Wesleys in seiner historischen Begrenztheit nach, sieht aber die zentralen Punkte als wichtige Herausforderungen für heutige Theologie und kirchliche Existenz. Das sogenannte »Quadrilateral« (die Normen Schrift, Tradition, Vernunft und Erfahrung als Quellen methodistischer Theologie nach A. Outler) untersucht er durchaus kritisch, entwickelt dann aber selbst eine gemäßigt konservative Variante dieses Modells: Primat der Schrift, Tradition der frühen Kirche und Reformation, Vernunft als Instrument, nicht als Offenbarungsquelle, Erfahrung als gemeinschaftlich erlebte Heilserfahrung. Weniger fundamentaltheologisch, sondern eher theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich arbeitet der Aufsatz »A heart strangely warmed«, in dem Raedel Entwicklung und kirchliche Beheimatung eines dezidiert evangelikalen Methodismus (zu dem er sich selbst zählt) untersucht.
Mit einer v.a. in der Vergangenheit viel diskutierten ethischen Frage beschäftigt sich der glänzend recherchierende und argumentierende Artikel »Zwischen Patriotismus und Pazifismus«. Die saubere, mit Einfühlungsvermögen in wechselnde kirchliche Lebenssituationen geschriebene historische Darstellung überrascht gegen Ende des Sammelbands nicht mehr wirklich. Darüber hinaus überzeugt mich aber – trotz unterschiedlicher kirchenpolitischer Verortung – die zusammenfassende Darstellung. Raedel verweist zurecht darauf, dass methodistische Friedensethik solide biblische Begründung und Ausrichtung auf die Heiligung des persönlichen und kirchlichen Lebens braucht, ohne sie dabei zu entpolitisieren und zu schwächen. Ebenfalls lesenswert ist der etwas kürzere Essay zu Wesley und der Globalieiserung.
Alle Artikel des Sammelbands sind kundig geschrieben, gründlich recherchiert und auch in Bereichen, die bisher nicht im Blickfeld des eigenen Interesses lagen, spannend und gewinnbringend zu lesen. Dazu hilft die Systematisierung geschichtlicher Entwicklungen. Die damit einhergehende Gefahr der Vereinfachung komplexer Realitäten kann er dabei meistens vermeiden. Raedel schreibt und wertet von einem gemäßigt konservativen Standpunkt aus, den der Rezensent nicht in allen Bereichen teilt. Aber er schreibt sachlich, polemikfrei und bietet immer wieder Einsichten und Überzeugungen, die überraschen – in alle Richtungen. Ein lohnender Sammelband, auch wenn zwei Kritikpunkte bleiben:
1. Manchmal hört es auf, wo es spannend wird: Ob bei der Pfingstbewegung oder der Entwicklung eschatologischer Vorstellungen, mehrmals wollte ich gerne weiterlesen, wie die aufgezeigten Linien weiter in die jüngste Zeit führen und unsere aktuelle Situation in Kirche und Gemeinde prägen. Aber der Artikel war bereits zu Ende. Vielleicht gibt es ja mal eine Fortsetzung? Oder gar eine Gesamtdarstellung methodistischer Glaubensgeschichte der letzten 150 Jahre?
2. Manches ist auch in einer nicht allzu volatilen Wissenschaft wie der Theologie nach bis zu 16 Jahren seit der Erstveröffentlichung nicht mehr ganz aktuell. Über die Möglichkeiten und Grenzen des innermethodistischen Pluralismus wird ja seit mindestens 2016 das tragisch-dramatische Lehrstück der Homosexualitätsdebatte in bisher mindestens drei Akten dargeboten. Ist das von Raedel vorsichtig kritisch beschriebene pluralistische Modell damit grundsätzlich krachend gescheitert? Oder ist es z.B. in Deutschland doch noch zu retten?
Auch das Nachdenken über die Gliederaufnahme in der EmK (»Gemeinschaft in Glaube und Dienst«) hat sich seit 2002 erheblich weiterentwickelt, ich nenne nur den neu in den Blick genommenen Bezug zwischen Kirchlichem Unterricht und Gliederaufnahme und inzwischen zu einem vorläufigen Abschluss gekommene Neuformulierungen der Gliedschaftsfragen. Wirklich störend ist das aber (nur) bei dem Artikel über das Abendmahl als Gnadenmittel der Christusnachfolge. Dass Raedel auf die in der gleichen Reihe veröffentlichte Antwort des Rezensenten auf seine Kritik am »offenen Abendmahl« nicht eingeht, ist dabei das kleinste Problem. An einem Punkt wurde zwar eine neue Veröffentlichung eingearbeitet. Doch die großen Bewegungen, die sich gerade an diesem Punkt in den letzten 18 Jahren ergeben haben, bleiben vollständig unberücksichtigt: So hat die EmK in Deutschland seit 2005/2008 eine grundlegend andere Kirchenordnung, etliche von Raedel zitierte Passagen aus der alten Ordnung sind nicht mehr in Kraft. 2004 hat die Generalkonferenz eine ausführliche Abendmahlsstudie »This Holy Mystery« angenommen, die in der Folgezeit auch in Deutschland rezipiert wurde und einen erheblichen Paradigmenwechsel darstellt. Über die Frage nach dem »offenen Abendmahl« gab es in den letzten Jahren einen durchaus auch kontroversen Dialog mit Vertretern der VELKD im Rahmen der Fortschreibung der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit der EKD. Und auf Anregung der Fachgruppe Agende hat die Zentralkonferenz 2017 eine Gottesdienstreform beschlossen, die dem Abendmahl grundsätzlich einen ganz zentralen Platz im Gottesdienst zuweist. Diesen dokumentierten Vorgängen auf kirchenamtlicher Ebene entsprechen m.E. erhebliche Veränderungen in Zugang und Einstellung der Gemeinden zur Abendmahlsfeier. Kurzum: Der vorliegende Artikel war 2002 ein wichtiger Gesprächsbeitrag, heute ist er es in dieser Form nicht mehr.
Mit diesen kleinen Einschränkungen gilt: Auch zwei Jahre nach dem Erscheinen noch ein lohnender Kauf für jeden, der an Geschichte und Theologie des Methodismus interessiert ist.
Christoph Klaiber