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Rezension

literaturkritik.de

Werteerziehung ist ein wiederkehrendes Thema der Deutschdidaktik. Tatsächlich war seit der Einführung des Schulfachs Deutsch im 18. Jahrhundert der Deutschunterricht zugleich an die Vermittlung von Tugenden geknüpft. Vielfältige Publikationen liegen vor, etwa die Ausgabe Literatur und Moral (1989) der Zeitschrift Praxis Deutsch oder der Sammelband Werte – Worte – Welten: Werteerziehung im Deutschunterricht (2012), der unter anderem von Sabine Anselm und Nazli Hodaie herausgegeben wurde. Auch seitens der Literaturwissenschaft und Philosophie wird immer wieder nach dem Verhältnis von Werten und Literatur gefragt, etwa im Sammelband Ethik der Ästhetik (1994) von Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht oder in Christian Kirchmeiers Dissertation Moral und Literatur (2013). Nicht zuletzt ist auf die Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München zu verweisen. Warum also haben Sabine Anselm, Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning noch einen weiteren Sammelband zum Themenkomplex mit dem Titel Er-lesene Zukunft. Fragen der Werteerziehung mit Literatur herausgegeben?
Angesichts von Kompetenzorientierung – etwa in den Schulleistungsstudien – fordern sie, dass »über das Vermitteln von Lesefertigkeiten hinaus […] die Inhalte des Gelesenen und die Wirkungen des Lesens« wieder stärker berücksichtigt werden sollten. Gestützt auf lesepsychologische und kognitionswissenschaftliche Forschungen erinnern sie an den Wert des Lesens im Sinne von Persönlichkeitsbildung. Sowohl die »literarästhetische Dimension« als auch die »moralisch-ethische« sind in angemessener Weise miteinzubeziehen.
Insbesondere die Fokussierung des Bandes auf Gegenwartsliteratur scheint gewinnbringend, da dadurch aktuelle ethische Fragen, die sich im Zuge von Globalisierungsprozessen ergeben, reflektiert werden können. So konstatieren Anselm, Grimm und Wanning: »Literatur wird […] zum Prüfstein für den Fortbestand einer pluralistischen Gesellschaft. Zu fragen ist, wieviel gemeinsame Werte benötigt werden, so dass weder der Zusammenhalt noch die Freiheitlichkeit gefährdet wird.«
Gegliedert ist der Band in die Themenbereiche Literatur und Lesen als Medien der Werteerziehung, gesellschaftliche Erwartungen – soziale Werte, Offenheit für das Außergewöhnliche, plurale Wertewelten und exemplarische Analysen. Die zwölf Beiträge setzten sich aus verhältnismäßig vielen Einzelfallstudien zusammen, doch auch Erörterungen auf der Basis größerer Textkorpora sind anzutreffen. Eine übergreifende Thematik sind überdies veränderte Wertereflexionen in einer multikulturellen Welt, etwa im Rahmen der Betrachtung von Migrantenliteratur oder Werken, die sich mit der Flüchtlingsproblematik oder sexueller Vielfalt auseinandersetzen. Schule kommt in diesem Kontext die Aufgabe zu, den Schülerinnen und Schülern das offene Diskutieren über eigene Wertevorstellungen in einem geschützten Raum zu ermöglichen. Gemäß den länderübergreifenden Bildungsstandards soll das Fach Deutsch »Reflexionsfähigkeit«, »interkulturelle Kompetenz«“ und einen souveränen Umgang mit »Alterität« vermitteln.
Dass es trotz Kompetenzorientierung und PISA zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den Inhalten von Literatur kommen sollte, betonen Jan Rupp und Bettina Wild in ihrem Beitrag über die Inszenierung des Werts des Lesens innerhalb von Literatur. In einer quellengesättigten Abhandlung arbeiten sie heraus, wie Schülerinnen und Schülern der Wert des Lesens – unter anderem von Literaturklassikern – nahegebracht werden kann. Beispielsweise verweisen sie auf das Kinderbuch Der magische Buchladen (2008). Es handelt von einem Kinderbuchladen, dessen Existenz gefährdet ist. Doch wird er von der magischen Kraft der Literatur gerettet: In der Nacht erwachen die Figuren aus den verschiedenen Büchern zum Leben und schmieden einen gemeinsamen Plan, wie sie den Laden schützen können. Es kommt zu vielfältigen intertextuellen Verweisen, unter anderem auf Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel. Insgesamt geht es Rupp und Wild um das Anstoßen einer Reflexion über Literatur, die durch Literatur selbst ausgelöst wird.
Der Titel Er-lesene Zukunft des Sammelbands verweist nicht zuletzt darauf, dass das, was man liest, Wirklichkeit werden könnte. Gerade durch identifikatorisches Lesen, bei dem man sich in das Bewusstsein des Protagonisten hineinziehen lässt, verändere sich das Gehirn und damit auch zukünftige Handlungsoptionen des Lesenden. Zudem spiegeln manche Werke – insbesondere Dystopien – Tendenzen von Wertehaltungen in der Gegenwart wider, die sich in der Zukunft negativ intensivieren könnten. Im Beitrag von Simon Zebhauser wird ein Modell zur Kategorisierung unterschiedlicher Dystopien entwickelt, das es erlaubt, für die jeweils vorliegende Dystopie Schlüsse für den Unterrichtseinsatz zu ziehen. Beispielsweise folgert er, dass Huxleys Schöne neue Welt und Juli Zehs Corpus Delicti eine identifikatorische Lesart im Vergleich zu anderen Dystopien eher in den Hintergrund treten ließen. Stattdessen gewinne in beiden Werken »das gesellschaftskritische Persuasionsverfahren […] einen distanziert-reflektierenden Einschlag«. Noch vertiefender mit Corpus Delicti beschäftigt sich Alexander Sperling.
Möglichkeiten, Literatur über Flucht im Unterricht zu behandeln, erörtert Wiebke Dannecker am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015). Inhaltlich handelt der Roman von einem emeritierten Altphilologen, der in Kontakt mit afrikanischen Flüchtlingen kommt, sie näher kennenlernt und sich für sie engagiert. Dannecker zeigt auf, wie sich Erkenntnisprozesse des Altphilologen über die Flüchtlinge parallel zu Reflexionen über sein eigenes Leben vollziehen. Bei der schulischen Nutzung des Romans plädiert sie für einen Critical-Literacy-Ansatz, den sie mit wissenspoetologischen Perspektiven ergänzen möchte. Konkret resultiert daraus, dass die Schülerinnen und Schüler sich nicht nur mit dem Roman selbst, sondern auch mit Sachtexten über Flucht beschäftigen sollen. In einem darauffolgenden Schritt sollen sie dann beurteilen, inwiefern es Erpenbeck durch ihre literarische Darstellungsweise gelungen ist, sich mit ihrem Roman für Flüchtlinge zu engagieren. Kritisch zu diskutieren ist beispielsweise, dass das Erzählte mehrheitlich aus der Sicht des Altphilologen dargeboten wird.
Migrantenliteratur bzw. die darin erfolgende Darstellung von Vaterfiguren betrachtet Monika Riedel. Von der Gründungsphase bis zu aktuellen Werken über das Sterben der ersten Gastarbeitergeneration identifiziert Riedel drei Stadien. Sie regt an, Veränderungen wahrzunehmen und den Gastarbeiterdiskurs nicht nur anhand der Gegebenheiten in der frühen Phase zu führen. Zu berücksichtigen sei etwa, dass spätere Generationen durchaus individualisierte Beschreibungen von Vätern und Familien entworfen haben. Wichtig sei es heutzutage, Schülerinnen und Schülern »mannigfaltige Lebens-, Familien- und Identitätsformen zu präsentieren«. In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag von Jana Mikota zur sexuellen Vielfalt in aktuellen Jugendromanen. Mikota stellt verschiedene Werke vor, die sie thematisch ordnet in Bücher, die von gleichgeschlechtlichen Elternpaaren handeln, solche über Homosexualität in historischen Kontexten, solche über Homosexualität im Alltag und schließlich solche über Transsexualität.
Sowohl Joachim Schulze-Bergmann als auch Carlo Brune und Ina Henke beschäftigen sich in ihren Beiträgen unter anderem mit Multiperspektivität. Schulze-Bergmann entwickelt für den dokumentarischen Roman Der Himmel über Jerusalem eine unterrichtliche Herangehensweise. Der Roman handelt von einem Selbstmordattentat im Israel-Palästina-Konflikt, das sowohl aus der Perspektive des Opfers als auch der Täterin erzählt wird. Sicherlich ist die Thematik für den schulischen Einsatz ambitioniert. Schulze-Bergmann weist selbst darauf hin, dass Lehrende »damit rechnen [müssen], dass die vorgestellte Problematik nicht vor dem Hintergrund eines demokratischen Gesellschaftsmodells gesehen wird […], sondern dass in der Lerngruppe auf radikale Lösungen zurückgegriffen wird«. Dem sensiblen Thema der demokratischen Grundwertbildung im Literaturunterricht widmet sich verstärkt Tabea Kretschmanns Beitrag.
Erwähnenswert sind ferner Barbara Schillys Analyse des preisgekrönten Kinderbuchklassikers Zeit des Mondes (1998) des britischen Schriftstellers David Almond und Janwillem Dubils Aufsatz zu Veränderungen der Comicfigur Superman sowie Katharina Goubeauds Beitrag zu Janne Tellers Roman Nichts (2000). 
Insgesamt bietet der Sammelband vielfältige Anregungen für die Entwicklung des Deutschunterrichts, wie auch für konkrete Umsetzungen. Es werden Werke und Themenkreise aufgezeigt, die von momentan hoher Relevanz für Fragen der Werteerziehung sind. Gerade dadurch, dass der Band auf Gegenwartsliteratur zurückgreift, ist er für mit Deutschdidaktik beschäftigte Leser ertragreich und inspirierend.
Julia Stetter

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Umschlagbild: Er-lesene Zukunft

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Er-lesene Zukunft

Fragen der Werteerziehung mit Literatur
Anselm, Sabine/Grimm, Sieglinde/Wanning, Berbeli/Brune, Carlo/Dannecker, Wiebke/Dubil, Janwillem/Goubeaud, Katharina/Henke, Ina/Kretschmann, Tabea/Mikota, Jana/Riedel, Monika/Rupp, Jan/Schilly, Ute Barbara/Schulze-Bergmann, Joachim/Sperling, Alexander/Wild, Bettina/Zebhauser, Simon

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