Rezension
Theologisches Gespräch 04/2019
»Spiritualität erlebt derzeit einen Boom« − mit dieser Beobachtung leiten Christian Bouillon, Holger Eschmann und Andreas Heiser das Vorwort zu ihrem Buch »Spiritualität und theologische Ausbildung. Evangelische Perspektiven« ein. Die drei Herausgeber, allesamt Dozierende und im letzten Fall Rektor an den freikirchlichen Hochschulen in Ewersbach und Reutlingen, bringen gleich zu Beginn die Problematik auf den Tisch, dass »Spiritualität« theologisch ein unbestimmter und schwammiger Begriff bleibe. Trotzdem gebe es seit dem Beginn der freikirchlichen Ausbildungsstätten einen Zusammenhang von theologischer Ausbildung und Spiritualität, der ständig im Wandel sei und immer wieder befragt sowie hinterfragt werde.
Genau darüber will das Buch aufklären und macht deutlich, wie verschiedene Ausbildungsstätten aus evangelischer und evangelisch-freikirchlicher Tradition sowohl früher als auch aktuell mit dem Thema Spiritualität umgehen. Bei den Darstellungen handelt es sich dabei nicht um hochwissenschaftliche Aufsätze mit entsprechendem Quellenbefund, da die umfassende Erforschung entsprechender Quellen und Dokumente noch ausstehe. Stattdessen handelt es sich um Einschätzungen derer, die täglich mit dem Thema zu tun haben: Professoren, Lehrbeauftragte und Rektoren der verschiedenen freikirchlichen Hochschulen in Deutschland. Die Beiträge reflektieren die unterschiedlichen Frömmigkeitstraditionen der jeweiligen Hochschulen und schildern, welche spiritualitätsfördernden Elemente jeweils im aktuellen Studium vorkommen.
Neben Beiträgen der Hochschulen in Reutlingen (Evangelisch-methodistische Kirche), Elstal (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden), Ewersbach (Freie Evangelische Gemeinden), kommt auch ein Vertreter der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche) zu Wort und wird ergänzt um einen Beitrag zum Zusammenhang von Spiritualität und theologischer Ausbildung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Schließlich zeigt eine Bibelarbeit zu paulinischer Spiritualität noch eine neutestamentliche Perspektive zum Thema auf.
Immer wieder wird deutlich, dass es sich beim Thema »Spiritualität und theologische Ausbildung« um ein Spannungsfeld handelt. Als eine der größten Herausforderungen erscheint dabei die Spannung von Funktionalität und Zweckfreiheit. Dies noch einmal mehr seit den Akkreditierungen zur Hochschule, die alle genannten freikirchlichen Seminare im vergangenen Jahrzehnt erworben haben: »Diese zur Spiritualität im Studium hin offene freikirchliche Tradition steht in Spannung zur gegenwärtigen am Bologna-Prozess orientierten Ökonomisierung des Studiums, die weniger Raum für unverzweckte geistliche Bildungsprozesse der Studierenden bietet.« (S. 10) Hinzu kommen Fragen wie: Dürfen geistliche Angebote verpflichtend sein? Lässt sich Spiritualität »verordnen«? Was soll, was darf, was kann die theologische Ausbildung leisten, und wie verträgt sich dies mit den Vorgaben des Wissenschaftsrates? Was ist letztlich die Aufgabe einer theologischen Hochschule – in einer Zeit, in der längst nicht mehr alle Theologiestudierende mit dem klaren Ziel studieren, Pastorin und Pastor zu werden?
Das Buch ist nach Kenntnis der Verfasserin das erste, das eine Darstellung dessen bietet, wie in Deutschlands freikirchlicher Landschaft theologische Ausbildung und Spiritualität in Vergangenheit und Gegenwart aufeinander bezogen sind. Es ist lesenswert für jeden, der das Spannungsfeld begreifen und reflektieren möchte, in dem sich theologische Ausbildungsstätten befinden. Es kann eine Hilfestellung bieten im Umgang mit Menschen, die noch immer der Meinung sind, ein Theologiestudium sei gefährlich für den Glauben und mache »unfromm«.
Um das (wachsende) spirituelle Angebot der unterschiedlichen Fakultäten zu vergleichen, ist das Buch nur bedingt geeignet. Zwar wird deutlich, dass manche Ausbildungsstätten einen stärkeren Fokus auf das Thema (praktische) Spiritualität legen und andere weniger; um eine Vergleichbarkeit zu erzielen, sind die verschiedenen Beiträge in Aufbau, Inhalt, Länge und wissenschaftlichem Anspruch jedoch zu unterschiedlich. Hier wären engere Vorgaben an die Verfasser hilfreich gewesen. Manche Autoren verlieren sich außerdem zu sehr in den Darstellungen ihrer eigenen Gründerväter und Gründertraditionen. Doch lag eine direkte Vergleichbarkeit der unterschiedlichen freikirchlichen Hochschulen und ihres spirituellen Angebotes auch nicht in der Absicht der Herausgeber, sondern eine Bestandsaufnahme.
Eine spannende Ergänzung wäre der Blick über den deutschsprachigen Tellerrand hinaus gewesen, da im internationalen Raum in den vergangenen Jahrzehnten ein Umdenken stattgefunden hat und »praktische Spiritualität« heute stärker ins Studium mit einbezogen wird. Darauf weist ACHIM HÄRTNER, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, in seinem Beitrag in Kürze hin: »Wer sich [...] bewusst für geistliche Angebote an einer Theologischen Hochschule stark macht, steht der Tendenz der derzeitigen Universitätstheologie in Deutschland entgegen, die im Zuge einer möglichst weitgehenden wissenschaftlichen Objektivierung bestrebt zu sein scheint, möglichst alles Praxisrelevante aus dem Studium der Theologie herauszuhalten. Im internationalen Kontext sieht dies anders aus.« (S. 206) Die Frage zu verfolgen, ob das Spannungsfeld »Funktionalität und Zweckfreiheit« ein typisch deutsches Problem ist, wäre interessant gewesen, hätte aber den Rahmen und das Ziel des Buches gesprengt.
Wer das Buch lesen möchte, sollte nicht zögern: Die Aktualität des Themas und der Fokus auf eine gegenwärtige Bestandsaufnahme bringen es mit sich, dass das Buch schon in Kürze nicht mehr den aktuellen Stand an den verschiedenen Hochschulen abbilden wird. Denn das Thema »Spiritualität und theologische Ausbildung« befindet sich im ständigen Wandel – genau dies macht den Ist-Zustand so spannend.
Yvonne Ortmann