Rezension
Pfarrbrief der ev.-luth. St. Mariengemeinde zu Berlin-Zehlendorf, Oktober 2019
Umfangreiches Werk zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirchen erschienen
Volker Stolle ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel und hat dieses Jahr im Januar (2019) ein umfassendes Werk (475 Seiten) über die Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland veröffentlicht.
Die Geschichte der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland ist knapp zwei Jahrhunderte alt, unsere SELK ist als Organisation 1972 gegründet worden, ein knappes halbes Jahrhundert. Die Anfänge gehen zurück auf die Zeit von 1817 bis 1880, in der versucht wurde, alle lutherischen Kirchen und: die reformierten Kirchen in Preußen zu einer »Union« in der evangelischen Kirche zu bündeln. Dies wurde aber von den Lutheranern abgelehnt.
Stolle beginnt im 2. Kapitel mit der geschichtlichen Hinführung über das Neue Testament hinweg zum lutherischen Bekenntnis und den ersten Ansätzen evangelisch-lutherischer Kirchen. Im dritten Kapitel geht es dann um die konfessionellen Widerstände und das Fernbleiben vom Unionsabendmahl (Seite 45). Kapitel 4 ist eine Übersicht über das Verhältnis der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen zu den Landeskirchen und zum preußischen Staat hin. Einzelne Unterkapitel zeigen die lokalen Gründungen in Breslau, Sachsen, Hessen und Hannover, also Gebiete, in denen die SELK auch heute noch relativ stark ist. Das Verhältnis zum Nationalbewusstsein (Seite 195ff) und zum kirchlichen Dienst im 1. Weltkrieg (Seite 222ff) wird durchaus kritisch von Stolle beschrieben. Kapitel 6 beschreibt die durchaus unterschiedliche Wahrnehmung des Nationalsozialismus in den evangelisch-lutherischen Kirchen des Deutschen Reichs. Stolle blickt auch auf den kirchlichen Dienst im 2. Weltkrieg (Seite 276f), wo die Gemeindepfarrer über Feldpost den Kontakt zu den Soldaten hielten. Kapitel 7 zeigt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Sammlung der Gemeindeglieder begann (Seite 280ff) und wie dann der Weg hin zur Gründung der SELK im Jahr 1972 geebnet wurde. Viele Unterkapitel zeigen die Entwicklung zu den heutigen Gemeinden, der »Allgemeinen Kirchenkasse«, den Predigtämtern und eine neue gesellschaftliche Positionierung (Seite 347ff). Fragen zur (einheitlichen) Gestaltung der Gottesdienste bis zum heutigen Tag sind von Stolle übersichtlich (Seite 362ff) dargelegt. Im 8. Kapitel entwickelt Stolle ein Anforderungsprofil an viele Stellen der SELK Gemeinden, beispielsweise zur Sozialethik (Seite 403ff), zur Abendmahlsgesellschaft (Seite 411ff) oder zu Ehe und Familie (Seite 414ff). Schwierige Themen, wie »Auswanderung im theologischen Disput« (Seite 413ff) lässt Stolle nicht aus.
Das neunte Kapitel ist ein Resümee von Stolle zum Stand der evangelisch-lutherischen Kirche im gesellschaftlichen und dann auch im gesamtchristlichen Kontext. Hier wird Stolle sehr deutlich, wie die Entwicklung aus seiner Sicht gestaltet werden sollte, ein Kapitel, das sich durch seine Deutlichkeit von den vorherigen eher historischen Kapiteln unterscheidet. Aus meiner Sicht richtig, dass jemand, der sich in einem selten einmalig umfangreichen Maße mit der Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirchen beschäftigt hat, sich dann auch zur Zukunft unserer Kirche äußert.
Für mich ist dieses Werk auch ein persönlicher Rückblick auf meine Familiengeschichte, die Vorfahren mütterlicherseits waren alles Altlutheraner, und das Werk von Stolle ist damit auch ein Rückblick auf Traditionen meiner Familie. Wer gern diesen historischen Rückblick vertiefen will, kann sich durch das umfangreiche Werk »durcharbeiten«, der Preis ist mit 78 Euro wirklich nicht gering, ein Leseexemplar ist bei Bedarf gern bei mir ausleihbar.
Andreas Jahn