Rezension
selk.de 17.08.2019
Der Sonntag scheint für viele ein schwieriger Tag zu sein. Scheinbar mussten nahezu alle Kinder früherer Generationen sonntags wider ihren Willen fein gekleidet mit der Familie spazieren gehen oder langweiligen Verwandten einen Besuch abstatten. Kein Wunder, dass irgendwann der Begriff der Sonntagsneurose aufkam. Was macht man an einem freien Sonntag, wenn man nichts muss? Da haben es Christen gut, die (auch) am Sonntag Gottes Wort hören können und sich damit beschäftigen. Nicht, weil sie müssen, sondern weil es sie danach verlangt. »Du sollst den Feiertag heiligen«, dieses Gebot meint nichts anderes, als dass man – immer, nicht nur sonntags, aber da eben ganz besonders – »Gottes Wort im Herzen, im Munde und in den Ohren habe«, wie Luther das in seinem großen Katechismus formuliert. Das bedeutet »heiligen« – weil das Wort die Kraft hat, »wenn man es mit Ernst betrachtet, hört und mit ihm umgeht, dass es niemals ohne Frucht bleibt, sondern immer neue Erkenntnis wirkt und neues Verlangen nach ihm weckt und ein reines Herz und reine Gedanken schafft«, so Luther.
Wenn man jemanden hat, der einen zu dieser Beschäftigung mit Gottes Wort animiert, umso besser. Andrea Grünhagen tut das mit ihren Texten zu den Sonn- und Feiertagen entlang des Kirchenjahres. In ihrem Andachtsbuch greift sie biblische Verse aus den gottesdienstlichen Lesungen auf und spannt eine Brücke zum Leser. In wenigen Sätzen ist die Verbindung da zur Aktualität, zu der Welt heute, in der wir leben. Sie stellt Fragen, die nachdenklich machen, aber auch neugierig, und die mitten ins Thema des Sonntags führen. Die promovierte Theologin und Referentin für Theologie und Kirche im Kirchenbüro der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) belässt es aber nicht bei den Fragen, sondern weiß sie klug und sachkundig einzuordnen, gibt hilfreiche Antworten und Hinweise zum Verständnis. Wie frisch klingen dadurch die biblischen Worte. Wie unverbraucht wirkt das, was Gott uns in ihnen sagt.
Andrea Grünhagen schafft das mit einer Sprache, die alltagstauglich ist, verständlich, aber nicht anbiedernd, mit Beispielen, die den Text illustrieren, ihn ins Heute umsetzen und anschaulich machen. Die aber eben tatsächlich auch in die Bibel hineinführen und sich nicht auf Umwegen verlieren. Sie spricht den Leser immer wieder direkt an, regt so zum Nachdenken an, als ob sie »bei mir auf dem Sofa sitzt und mir was erzählt«, wie es ein Leser formuliert hat.
Andrea Grünhagen braucht keinen pädagogischen Zeigefinger; sie doziert nicht. Und trotzdem lernt man ganz »nebenbei« eine Menge über lutherische Theologie und Kirche. Die Texte sind kurz, jeweils maximal zwei Seiten. Aber sie bringen in ihrer kompakten Zuspitzung das jeweilige Wort Gottes auf den Punkt. Und sie führen durch das Kirchenjahr, das dadurch mit seinen unterschiedlichen Prägungen besonders deutlich gemacht wird. »Selbst vielen regelmäßigen Kirchgängern ist gar nicht bewusst, dass jeder Sonn- und Feiertag ein spezielles Thema hat«, schreibt die Autorin im Vorwort. Gerade in der Trinitatiszeit, die eher unspektakulär vom Frühjahr bis in den Herbst dauert, ist es eine gute Übung, jeden Sonntag mit seinem spezifischen Thema in den Blick zu nehmen. Und dann die Lesungen, die Lieder und die Predigt im Gottesdienst anders, vielleicht konzentrierter zu hören.
Zum Beispiel am 12. Sonntag nach Trinitatis mit seinem Thema »Heilung«: Die Lesung aus dem Markus-Evangelium erzählt die Geschichte von der Heilung eines Taubstummen. Es geht an diesem Sonntag um die Situation aller Menschen, so Andrea Grünhagen. »… wir sind von Natur aus in Bezug auf Gott so: blind, also unfähig ihn zu erkennen, taub für seine Botschaft und stumm, das heißt, unfähig, ihm zu antworten.« Erst das »Schöpferwort« Jesu, sein »Hefata!«, durchbricht diese Mauer der Stille um den Taubstummen herum. An der Geschichte wird auch deutlich, wie ein Mensch zum Glauben an Christus kommt. »Nämlich nur und immer und jedes Mal, indem Gott selbst sein ›Hefata!‹ spricht«. Grünhagen macht an dieser Stelle ganz klar: »Der Glaube an Gott ist kein Angebot, das der Mensch von sich aus annehmen kann. Er kann sich nicht bekehren, sich nicht für Gott entscheiden. (…) Gott selbst hat uns aus dem Alptraum der Gottesferne, in dem wir blind, taub und stumm in Bezug auf den Glauben waren, herausgeholt. Er hat auch bei uns sein ›Hefata!‹ gesprochen.«
Neben den Sonntagen des Kirchenjahres nehmen in dem Buch die Gedenktage einen wichtigen Platz ein. Sie sind wichtig, so Andrea Grünhagen, »weil sie die Erinnerung, dass die Geschichte der Kirche größer ist als die einer Einzelgemeinde oder eines Christen. Die ›Wolke der Zeugen‹ (Hebräer 12,1) ist durchaus eine Realität, die wir nicht vergessen sollten.« Dazu gehören nicht nur die Apostel, dazu gehört St. Martin (am 11. November), dazu gehört Elisabeth von Thüringen (am 19. November), Nikolaus natürlich (6. Dezember), dazu gehört der Tag der Darstellung des Herrn im Tempel (2. Februar) und der Tag der Ankündigung der Geburt Jesu (25. März); dazu gehört der Johannistag als Erinnerung an Johannes den Täufer (24. Juni) und einen Tag später der Gedenktag der Augsburgischen Konfession (25. Juni); dazu gehört der Tag des Besuchs Maria bei Elisabeth (2. Juli) und der Tag des Märtyrers Laurentius (10. August), der Tag des Erzengels Michael und aller Engel (29. September) und der Gedenktag der Reformation (31. Oktober).
Ja, an diese Zeugen des Glaubens zu erinnern, durchaus auch in einem besonderen Gottesdienst, könnte der »geistlich-liturgischen Verarmung, die in manchen Gemeinden in dieser Hinsicht herrscht«, wie es die Kirchenhistorikerin Grünhagen formuliert, etwas entgegensetzen.
Die liturgischen Farben des Kirchenjahres werden in dem Buch mit farbigen Balken markiert. Einleitend zu jeder Kirchenjahreszeit stehen jeweils Liedverse aus dem Gesangbuch und Gebete, die Propst Gert Kelter formuliert hat, ebenso wie die Gebete am Schluss des Buches.
Der Sonntag ist ein besonderer Tag, nicht bloß, weil da die (meisten) Geschäfte geschlossen haben. Sich am Sonntag wenigstens den einen kurzen Text in diesem Buch vorzunehmen und darüber nachzudenken, macht den Tag zu einem besonderen – probieren Sie es aus!
Doris Michel-Schmidt