Rezension
Theologie für die Praxis 41 (2015)
Zu den zentralen Dokumenten der methodistischen Bewegung – oder von der späteren Kirchwerdung her gedacht: zu den »Lehrgrundlagen« methodistischer Kirchen – gehört eine Sammlung von Texten, die in ihrer Gattung auf den ersten Blick nicht ohne weiteres zu bestimmen, für die Entwicklung einer methodistischen Theologie aber von großer Bedeutung gewesen ist. John Wesleys heute so genannten »Standard Sermons« stellen weder Predigtmanuskripte noch Mitschriften gehaltener Predigten dar, sondern sind diskursive Darlegungen des »Kerngehalts« (S. 11) der methodistischen Evangeliumsverkündigung, in deren Dienst sich vor allem theologische Laien stellten, die hier einen Rahmen für die sich entwickelnde methodistische Theologie und ihre eigene Verkündigung fanden. Diese »Standard Sermons« konnten durchaus Anhalt an tatsächlich gehaltenen Predigten haben, stellen in ihrer Gestalt aber deutlich ein Medium schriftlicher Kommunikation dar. Sie erschienen sukzessive zunächst unter dem Titel »Sermons an Several Occasions« in drei Bänden (1746, 1748, 1750), denen 1760 ein vierter Band folgte und 1764 im Rahmen einer Neuauflage des dritten Bandes eine 44. Predigt hinzugefügt wurde. In der 1771 erschienenen Werkausgabe hatte Wesley diese Predigtsammlung auf 53 Predigten vermehrt, wobei er die neuen Predigten an unterschiedlichen Stellen einfügte ? ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich bei der Art der theologischen Unterweisung, die Wesley für »seine« (Laien-)Prediger wählte, aber auch bei seiner Art der theologischen Arbeit um ein »offenes System« handelte, wie Manfred Marquardt im Vorwort treffend formuliert (S. 10).
Bei diesem Band handelt es sich nicht um die erste Übertragung der »Standard Sermons« ins Deutsche. Die Stuttgarter Ausgabe (1986–1992) wurde durchgehend konsultiert und zum Teil ? gerade auch im Grundbestand der Einleitungen zu den einzelnen Predigten ? der Neuausgabe zu Grunde gelegt. Die vorliegende Neuübersetzung zeichnet aus, dass es ihr gelingt, die »gehobene Alltags-Sprache« (S. 12) des Originals weitgehend ins Deutsche zu übertragen und sich dabei behutsam am heutigen Sprachempfinden zu orientieren ? was sich unter anderem auch in der kritischen Reflexion traditioneller Begriffe zeigt (so ist eher von »neuer Geburt« als von »Wiedergeburt« die Rede oder von »zuvorkommender« anstelle von »vorlaufender« Gnade). Darüber hinaus ist die grafische Darbietung der Predigten vorbildlich umgesetzt. Die Markierung der ersten Ordnungsebene mit römischen Ziffern im Fettdruck und die absatzweise Nummerierung in arabischen Ziffern sind sehr übersichtlich gestaltet.
Anders als in der englischen (kritischen) Edition (Bd. 1–2 der »Works of John Wesley«, 1984-1985), die die Textgrundlage für die Neuübersetzung darstellt, werden – wie schon in der Stuttgarter Ausgabe – die Schriftbezüge sowohl im Sinne von Zitaten als auch von Anspielungen, die noch einmal anhand der King-James-Bibel des Book of Common Prayer verglichen wurden, in Marginalien wiedergegeben, sonstige Erläuterungen oder Bezüge auf andere Quellen bzw. Querverweise in einem schlanken Anmerkungsapparat. Bibelstellen werden gegenüber der englischen Ausgabe mitunter korrigiert (etwa S. 24: 2. [!] Tim. 3,16), und auch die nichtbiblischen Quellenbezüge wurden kritisch durchgesehen (so dürfte auf S. 393 in der Tat Tertullian, De ieiunio, Kap. XIII statt – wie in den Anmerkungen der englischen Edition und der Stuttgarter Ausgabe – Kap. IX der Bezugspunkt für die dortige Rede vom »Halbfasten« sein). Außerdem sind die deutschen Predigttitel neu an ihren (oft kürzeren) englischen Originaltiteln orientiert. Die Einleitungen von Walter Klaiber, Michel Weyer und Manfred Marquardt geben hilfreiche Einführungen in die theologischen Propria und Kontexte der einzelnen Predigten. Ausgesprochen nützlich sind schließlich auch die Register am Ende des Bandes, die nicht nur Personen und Bibelstellen ausweisen, sondern auch zentrale Begriffe, was angesichts des nicht klar thematisch geordneten Genres das Nachschlagen und Verfolgen einzelner Topoi durch verschiedene Predigten ermöglicht.
Natürlich lädt der Band ? und das sollte er im besten Sinne auch tun – zur Diskussion ein. So ließe sich überlegen, ob das englische »scriptural« nicht häufiger mit »schriftgemäß« als mit »biblisch« übersetzt werden müsste (wobei »schriftgemäß« zu den traditionellen Begriffen gehört, die laut Vorwort – ohne dies näher zu spezifizieren – neu bedacht worden sind). Besonders auffällig ist dies bei Predigt Nr. 4 (»Biblisches Christentum«), in der Wesley pneumatologisch argumentiert, aber nicht kybernetisch im Sinne eines aus biblischer Zeit zu erhebenden äußeren Strukturmodells, wie dies in anderen protestantischen Traditionen der Fall ist. »Catholic Spirit« weiterhin mit »Ökumenische Gesinnung« (Predigt Nr. 39) zu übersetzen, dürfte sachgemäß sein; gelegentlich hätte man sich noch mehr Verweise auf diesen »ökumenischen« Horizont gewünscht (etwa in der in Predigt Nr. 2 aufscheinenden Frage der fides caritatem formata; schön sind die Bezüge zum katholischen und orthodoxen Erbe in der Frage der Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit in der Einleitung zu Predigt Nr. 6 zur Sprache gebracht). Andere Übersetzungsfragen wie etwa die Übertragung des englischen »enthusiasm« (Predigt Nr. 37) ins Deutsche stellen eine Crux dar; der traditionelle Begriff der »Schwärmerei« mag die negativen Konnotationen nicht mehr in gleicher Weise zu transportieren, allerdings hat der gewählte Begriff des »Fanatismus« auch sehr eigene Nuancen.
Einladen soll der Band natürlich auch – und das geht über die Möglichkeiten einer solchen Besprechung hinaus – zur inhaltlichen Diskussion dessen, was methodistische Theologie ist und in welchem Verhältnis wir heute zu dem stehen, was sich zu Beginn der methodistischen Bewegung als theologischer Kern herausgebildet hat. Wer sich von dem hohen Preis nicht schrecken lässt, erhält dafür mit dem vorliegenden Band eine ausgezeichnete Grundlage.
Thomas Hahn-Bruckart