Rezension
Ethica 24 (2016) Heft 3
Die Beiträge des Bandes 13 der Edition Ethik gehen zurück auf die Tagung »Das Fremde verstehen. Interkulturalität und Ethische Konflikte in Medizin und Pflege«, die 2012 vom Zentrum für Gesundheitsethik der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover durchgeführt wurde. Bereits damals betrug in Deutschland die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund 15 Millionen, das sind fast 19% der Gesamtbevölkerung. Inzwischen hat sich die damit gegebene Aktualität des Themas durch die zunehmende Zahl von Flüchtlingen in allen europäischen Ländern weiter erhöht. Unterschiedliche Wertauffassungen von Menschen in einem Land bzw. einer Einrichtung sind historisch gesehen kein neues Phänomen – allerdings hat die kulturelle Differenz in unserer Zeit besonders zugenommen. Damit ist in der Moderne die fundamentale Frage der Ethik aufgeworfen, »wie sich der universale Anspruch ethischer Normen zu ihrer faktisch immer nur regionalen Geltung verhält« (S. 9). Oder: »Wie viel Verständigung über die Grenzen kultureller Differenzen hinweg ist notwendig, wie viel möglich oder gar wünschenswert, um in einem konkreten ethischen Konfliktfall zu einer verantwortbaren Lösung zu kommen?« (S. 13). Dabei kann Aufhebung der kulturellen Differenz nicht das Ziel sein – sondern immer nur die Eröffnung von »Wegen zur Fremdheit des Anderen«. Der vorliegende Band gliedert sich dazu in 2 Teile – zunächst in ethische und ethnologische Reflexionen und Theorien, dann in Interkulturalität in der Praxis.
Die theoretische Reflexion eröffnet Walter Bruchhausen, indem er zunächst interkulturelle Konflikte in ethischer Hinsicht systematisch unterscheidet in 1. Konflikte aus mangelndem Verstehen der fremden Sichtweise; 2. Konflikte durch unterschiedliche Einschätzung der Situation trotz gemeinsamer Wertegrundlage; 3. Konflikte aus Fehlverhalten, weil die allgemein oder für Landsleute akzeptierten Verpflichtungen gegenüber manchem Fremden nicht gesehen und erfüllt werden und 4. Konflikte aus unvereinbaren moralischen Positionen (vgl. S. 26). Nur Letztere seien echte ethische Konflikte.
In den meisten weiteren Beiträgen wird darauf verwiesen, dass diese Arten von Konflikten in der Praxis häufig vermischt werden – meist wird nur über zwei grundlegende Probleme gesprochen: (fehlende) sprachliche Kompetenz und Kulturalisierung von Schwierigkeiten (der Mensch wird nicht als konkretes Individuum gesehen, sondern als Vertreter einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppierung). Weiters stimmen alle Beiträge dahingehend überein, dass die Ausbildung in den entsprechenden Berufen in Bezug auf interkulturelle Kompetenz (ebenso wie die transkulturelle – d.h. das Verständnis zwischen einzelnen Berufsgruppen) erweitert werden muss und berichten über bereits vorhandene Wege und Modelle. Tatjana Grützmann geht in ihrem Beitrag explizit auf drei verschiedene Modelle der kultursensiblen Ethikberatung ein. Der Schweizer Autor Peter Saladin erläutert darüber hinaus explizit die Aufgaben der Unternehmensleitung von Krankenhäusern (bzw. anderen Einrichtungen) als notwendige Voraussetzung für die Verankerung der interkulturellen Kompetenz auf allen Ebenen und für alle beteiligten Berufsgruppen. Damit geht er weit über den oftmals nur geforderten Einsatz von Dolmetschern bzw. die Einrichtung von Ethik-Komitees hinaus und verankert damit die Problemlösung auf der notwendigen Ebene.
Viola Schubert-Lehnhardt