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Rezension

Theologische Rundschau 81 (2016)

»Schreibt, lieber Herre, schreibt, Daß Ihr bei der Pfarre bleibt.« Nach Johann Gustav Droysen (Geschichte der Gegenreformation, 1893, 122) drängten mit diesem Vers sächsische Predigerfrauen ihre Männer, 1577 die Konkordienformel zu unterschreiben. Gegen ihre persönliche Überzeugung und vielfach gegen ihr Gewissen sei den Geistlichen die Formel durch die Obrigkeit zur Unterschrift vorgelegt worden. Aus Furcht vor leiblichem Elend für Frau und Kind hätten die meisten kursächsischen Prediger das Werk angenommen. Lediglich ein Pastor, ein Kantor und ein Schullehrer sollen »im ganzen Sachsenland [...] den Muth gehabt haben«, so Droysen (ebd.), die Unterschrift zu verweigern. Auch wenn im 18. Jahrhundert die anekdotischen Merkverse wahlweise für die Unterschrift unter das Interim von 1548 – hier mit der Hervorhebung von »Dienste« statt »Pfarre« – (Johann Georg Leigh, Homiletische-Schatzkammer, 1715, 679) oder für das kurbrandenburgische Toleranzedikt von 1664 (Unschuldige Nachrichten 1727, 1044) überliefert sind, verfestigte sich im 19. Jahrhundert die Verbindung mit der Konkordienformel. Unabhängig vom schwierig zu rekonstruierenden historischen Sitz im Leben dieses Verses wird durch ihn die Kehrseite des landesherrlichen Kirchenregiments thematisiert. Je nach kirchenpolitischer Ausrichtung der Herrscher wechselten im 16./ 17. Jahrhundert die evangelischen Lehrbekenntnisse, auf die die Geistlichen jeweils verpflichtet werden mussten. Wer sich weigerte, dem neuen Bekenntnis zuzustimmen, wurde aus dem Amt entlassen und nicht selten mit Frau und Kind des Landes verwiesen. Das Schicksal als Glaubensflüchtling verband insbesondere in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zahlreiche Prediger. In dieser Zeit des Konsolidierungsprozesses der Konfessionen, auch Konfessionalisierungsprozess genannt, kam dem beschriebenen Normierungsvorgang eine Schlüsselstellung zu. Durch Unterschrift wurde die Glaubenseinheit im Territorium befördert und die inhaltlich-theologische Stabilisierung des jungen Kirchenwesens vorangetrieben. Garanten hierfür waren die kirchenleitenden Instrumente und Institutionen wie beispielsweise die Visitation, das Superintendentenamt, das Konsistorium oder die Synode.
Für große Teile des Luthertums übte die Konkordienformel diese normierende Funktion aus. Sie führte zu einer Beruhigung der innerlutherischen Streitigkeiten, sorgte für eine Festigung von Selbstverständnis und Lehre der evangelisch-lutherischen Kirchen und ermöglichte langfristig eine transterritoriale lutherische Identität (im Konkordienluthertum). In seiner überaus lesenswerten Studie Die Konkordienformel beschreibt jetzt ROBERT KOLB die komplexe Entstehungsgeschichte dieses lutherischen Bekenntnisses von 1577 und dessen Publikation im Konkordienbuch von 1580. Der emeritierte Professor für Systematische Theologie und Direktor des Instituts for Mission Studies am Concordia Seminary in St. Louis (Missouri, USA) rekonstruiert hierbei die Genese des Luthertums zwischen Luthers Tod und dem Abschluss der Konkordienformel. In neun gehaltvollen Kapiteln schlägt der exzellente Kenner der lutherischen Theologiegeschichte in dem durch Marianne Mühlenberg ins Deutsche übersetzten Werk den Bogen von den theologischen Spannungen unter Luthers Anhängern vor seinem Tod bis hin zu den »Reaktionen auf die Konkordienformel in den 1580er Jahren« (174–179). Anders als andere Darstellungen erklärt Kolb dabei die Diskontinuitäten zwischen den Lutheranhängern nach Luthers Tod durch die bereits vor seinem Tod aufgetretenen theologischen Differenzen. Dass die theologischen Problemfelder innerhalb der Wittenberger Reformation der späten 1520er und 1530er Jahre aber in einem anderen historischen Kontext zu verorten sind als die Auseinandersetzungen nach Luthers Tod (1546), der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes (1547) und des Interims (1548) und somit nur bedingt in eine Linie mit den vorangehenden Streitigkeiten zu stellen sind, mindert Kolbs Beitrag keineswegs.
Überhaupt vertritt Kolb hier einen Ansatz, der seine Stärke im genuin theologiegeschichtlichen Zugang hat. Diese konstruktive Eigenständigkeit betont auch die der Studie vorangestellte »Einführung« (9–12) des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann. Wohlwollend-kritisch würdigt er Kolbs Zugang im Gegenüber zu den verschiedenen kultur- und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen. Denn anders als die – auch vom Rezensenten vertretene – Interpretation der theologischen Konflikte durch Rekonstruktion der Interdependenzen zwischen kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen stelle Kolb »die theologischen Sachfragen [...] vor allem anderen [ins] Zentrum seines Bildes der theologischen Auseinandersetzungen zwischen 1546 und 1577/80« (11). Gleichzeitig führe er die lutherische Streitkultur eng an die Debatten der Reformatorengeneration heran und spreche für die Phase nach 1555 programmatisch von der »Spätreformation«. Bei der Lektüre des Werkes bestätigt sich Kaufmanns Urteil, dass Kolbs Darstellung eine Alternative zum mittlerweile – nicht nur in der Geschichtswissenschaft – weit verbreiteten Konfessionalisierungsparadigma bietet. Im Gegensatz zu den häufig theologievergessenen Ansätzen der modernen Frühneuzeitforschung betont der amerikanische Lutherforscher das, worum es den damaligen Akteuren eigentlich ging: um die theologische Wahrheit. Dass diese Wahrheit anhand der Konkordienformel auch für heutige Theologie Gültigkeit hat und die im lutherischen Konkordienbuch zusammengefassten Bekenntnisse überzeitliche Orientierung ermöglichen, ist ein zentrales Anliegen des Buches.
Folglich stellt Kolb seiner Darstellung einige Prolegomena als »Geleitwort« voran: Im Abschnitt »Bekennen und Bekenntnis im Luthertum des 16. Jahrhunderts« (13–24) formuliert er Grundeinsichten zum Thema, die er anhand der Entstehungsgeschichte der Confessio Augustana und der sie auslegenden lutherischen Bekenntnisschriften entwickelt. Bei der sprachlichen Beobachtung zum Substantiv »Bekenntnis« – dieses komme vor 1530 »nicht als Terminus« und auch »nicht als Titel« im Zusammenhang einer offiziellen Erklärung der Kirche vor (16) – hätte Kolb zumindest auf die einen öffentlichen Charakter tragende Schrift Luthers Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528) hinweisen dürfen. Weitere programmatische Kurzbeiträge widmen sich der »Konkordienformel: Ihr Sitz im Leben in der Spätreformation« (25 f.), der Thematik »Spätreformation« und »Konfessionalisierung« als »Prozess und Epoche aus der Sicht der Forschung« (26 f.) sowie der »Polemik als theologische[r] Methode« (28–30). Das I. Kapitel beschreibt, wie bereits erwähnt, die »theologischen Spannungen unter Luthers Anhängern vor seinem Tod«, wobei Kolb Luthers Kreuzestheologie, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und von passiver und aktiver Gerechtigkeit als dessen »radikalen Paradigmenwechsel« benennt (32). Andere Paradigmenwechsel, wie beispielsweise das allgemeine Priestertum der Getauften und die damit verbundene Aufhebung von Priester- und Laienstand oder die Freiheit eines Christenmenschen, hätten darüber hinaus erwähnt werden können. Allerdings boten diese Themen anders als die reformatorische Ausbalancierung der »Rolle des Gesetzes im Leben des Christen« (Johann Agricola und Philipp Melanchthon, 32–35), die »Bedeutung der Reue für die Seligkeit« (Conrad Cordatus und Caspar Cruciger, 35) oder weitere theologische Positionen (Nikolaus von Amsdorf und Philipp Melanchthon, 35–39) keinen Anlass zum Streit. Dass Kolb Amsdorfs Kritik an Melanchthon Anfang der 1540er Jahre herausarbeitet, um beide im Folgenden als »zwei unterschiedliche Pole« darzustellen (39), ist weitsichtig.
Kapitel II entfaltet den Schmalkaldischen Krieg, das Interim und die Adiaphorakontroverse als »Schauplätze einer Streitkultur« (40–65). Kolb folgt einem auch in den weiteren Kapiteln angewandten Schema: Nach der theologischen Kontroverse (hier: bzgl. des Leipziger Landtagsentwurfs bzw. »Leipziger Interims«) und dem Verlauf des Streites wird die »Konkordienformel als Lösung« des Problems dargestellt. In einem eigenen Unterkapitel (leider in der gesamten Studie ohne Nummerierung) werden die gegensätzlichen »Parteien der Wittenberger Spätreformation«, die sogenannten »Gnesiolutheraner« (Amsdorf u. a.) und »Philippisten« (Melanchthonanhänger) differenziert gewürdigt (58–65). Zu Recht weist Kolb darauf hin, dass diese Bezeichnung erst im späten 18. Jahrhundert zur Identifizierung der lutherischen Gruppen auftauchte, feste Zuschreibungen nicht durchgehend möglich seien und weitere »Parteien« unter den Lutheranern existierten. In der Eigenwahrnehmung des Zeitalters war den Gegnern gleichwohl bewusst, unterschiedlichen Theologien verpflichtet zu sein, so dass Kolb an der in der Forschung vielfach in Frage gestellten theologiegeschichtlichen Gruppenzuschreibung festhält. Während Kapitel III die Majoristenkontroverse und den Antinomistenstreit (66–76) entfaltet, Kapitel IV den synergistischen Streit als »Kontroverse über die Erbsünde und die Erwählungslehre in der Spätreformation« (77–96) sowie Kapitel V den Osiandrischen Streit »über die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« (97–109), konzentriert sich das umfangreiche Kapitel VI auf den Streit um Abendmahl und Christologie (110–145).
Hier werden die Hintergründe der reformatorischen Abendmahlsstreitigkeiten der 1520/30er Jahre erinnert, sodann der Streit zwischen Joachim Westphal und Calvin und jener zwischen Johann Timann und Albert Rizäus von Hardenberg analysiert, um schließlich die konfessionspolitische Dimension hinsichtlich des Vordringens des Calvinismus in der Pfalz darzustellen. Ein eigenes Gewicht kommt den Melanchthonanhängern nach Melanchthons Tod zu, die dessen »philippistische« Sakramentenlehre weiterentwickelten, was ihnen unter Zeitgenossen den Spottnamen »Kryptocalvinisten« (129) einbrachte. Diese auch von der Forschung rezipierte Bezeichnung wird allerdings in der Überschrift des Unterkapitels (ebd.) und an anderen Stellen des Werkes fälschlicherweise mit »Kryptophilippisten« wiedergegeben. Nach der Skizzierung der Abendmahlslehre und Christologie in der Konkordienformel wird schließlich noch »Christi Höllenfahrt« (144 f.) thematisiert.
Weil kurz nach Ausbruch der innerprotestantischen Kontroversen bereits Bemühungen um eine Wiederherstellung der Bekenntniseinheit von Seiten der Fürsten und der Theologen erfolgten, widmet sich das eher deskriptiv-kirchenhistorisch angelegte Kapitel VII (146–157) dieser Thematik. Erwähnt werden die unterschiedlichen Aktivitäten zwischen 1553 (nach dem Passauer Vertrag von 1552) und 1569, bei denen Matthias Flacius, die Jenaer (nicht »Jenenser«, u. a. 156) Theologen und die ernestinischen Herzöge mit dem »Weimarer Konfutationsbuch« (1559) eine zentrale, wenn auch nicht immer einheitsstiftende Rolle spielten. Erwähnung finden auch der Naumburger Fürstentag (1561) mit seiner Verpflichtung auf die Confessio Augustana Invariata, die »Corpora Doctrinae« als Sammlungen konfessioneller Dokumente und das letztlich gescheiterte Altenburger Kolloquium 1568 zwischen den kursächsischen und sächsischen Theologen. Dass trotz der Erfolglosigkeit zahlreicher Versuche schließlich der Vorstoß Jakob Andreaes zur lutherischen Einheit in Form der Konkordienformel und des Konkordienbuches führte, dem sich immerhin mehr als zwei Drittel der evangelischen Fürsten, Herrschaften und Städte in Deutschland anschlossen, führt Kolb differenziert in Kapitel VIII (158–173) aus. Die Reaktionen auf die Konkordienformel, zu denen möglicherweise auch der eingangs erwähnte Bittvers zählt, vervollständigen die differenzierte Darstellung, die seit Ende 2014 durch die Neuausgabe der Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche und den dazugehörigen Band 2 der Quellen und Materialien (hrsg. von Irene Dingel) vertieft wird. Ein von Kolb angefertigtes, den Forschungsstand kommentierendes Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister vervollständigen eine überaus informative Studie.
Ein abschließendes »Postscriptum« (180 f.) schlägt den Bogen zurück in die Gegenwart. Hierin weist Kolb zurecht darauf hin, dass, wenn man die Konkordienformel im 21. Jahrhundert lesen und darauf zurückgreifen wolle, es nötig sei, »das Dokument in seinem historischen Kontext zu verstehen.« (180). Mit seinem dezidiert theologiegeschichtlichen Ansatz löst der Autor dieses Postulat selbst hervorragend ein. Insofern eignet sich die Monographie vorzüglich als Lehr- und Lernbuch und ist insbesondere den Studierenden zur Lektüre wärmstens empfohlen.
Christopher Spehr

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