Rezension
Lutherische Kirche 04/2016
Ich habe den Eindruck, dass ein Predigtnotstand in der Kirche ausgebrochen ist, auch in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Das Leiden an der Predigt scheint zuzunehmen. Immer wieder höre oder lese ich Predigten, von denen ich den Eindruck habe: »Du müsstest dir mal Zeit nehmen, mit dem Pfarrerbruder intensiv über seine Predigt zu sprechen.« Aber diese Zeit fehlt mir. Gemeindeglieder sprechen mich gelegentlich an und klagen über die Qualität von Predigten.
Aber ich selbst gehöre wohl auch zu denen, die das Leiden an der Predigt vermehren. Neulich nahm ich eine eigene Predigt von vor zehn Jahren zur Hand und dachte beim Lesen der eigenen Predigt: »Das ist doch ziemlich gesetzlich, was du da gepredigt hast!«
Christoph Barnbrock, Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule (LThH) in Oberursel, hat im Jahr 2014 ein Buch mit dem Titel »Unterscheidungskunst« von John T. Pless übersetzt und herausgegeben, das sich bestens eignet, in einer Gemeinde einmal so etwas wie »Predigt-Exerzitien«, also Übungen zur Predigt, für Prediger wie Predigthörer zu veranstalten. Professor John T. Pless hat nämlich solche »Predigt-Exerzitien« in der Zion Lutheran Church in Fort Wayne im Jahr 2003/2004 mit seiner Gemeinde gehalten.
Dazu hat er seinerseits 25 Thesen von Carl Ferdinand Wilhelm Walther (1811–1887) über das Thema »Gesetz und Evangelium« aufgegriffen, die dieser in St. Louis in 39 Abendvorlesungen erläutert hat. Pless macht nun Folgendes: Er nimmt diese 25 Thesen, stellt sie an den Anfang seiner Kapitel und erklärt sie anschaulich für Leserinnen und Leser unserer Tage. Warum die Lektüre auch für interessierte Gemeindeglieder ertragreich werden kann, sagt Walthers These IV: »Die rechte Erkenntnis von dem Unterschied des Gesetzes und Evangeliums ist nicht nur ein herrliches Licht zu rechtem Verstand der ganzen Heiligen Schrift, sondern ohne jene Erkenntnis ist und bleibt auch dieselbe ein fest verschlossenes Buch.« Mit anderen Worten: Ohne die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erschließt sich die Heilige Schrift nicht.
Walther definiert nun Gesetz und Evangelium folgendermaßen: »Das Gesetz sagt uns, was wir tun sollen. Davon sagt das Evangelium nichts, sondern offenbart uns nur, was Gott tut. Das Gesetz redet von unseren Werken, das Evangelium von Gottes großen Werken.« So einfach!
So schwer! Neulich hörte ich eine Predigt, in der mir gesagt wurde, ich solle die Gnade, die Christus für mich erwirkt hat, nur ergreifen und in mein Herz nehmen. Das ist doch richtig, oder? Nein, es ist falsch. Denn wenn ich etwas in mein Herz nehme, dann tut es nicht Gott, sondern ich. Pless zitiert dazu die sehr anschauliche Geschichte des schwedischen Bischofs Bo Giertz, in der er einen alten Pfarrer mit seinem jungen Amtsbruder reden lässt: »›Wenn du glaubst, dass du erlöst wirst, weil du Jesus dein Herz schenkst, so wirst du nicht erlöst. – Sieh mal, mein Junge‹, fuhr er beschwichtigend fort und sah dem Hilfsprediger unablässig in das Gesicht, wo Unsicherheit und erstaunter Verdruss um den Sieg kämpften, – ›ein Ding ist es, sich Jesus zu einem Herrn zu erwählen, ihm sein Herz zu schenken und sich für ihn zu entscheiden und zu glauben, nun dankt er vielmals und ist froh, mich zu seiner geringen Herde zählen zu dürfen – und ein ganz ander Ding ist es, an ihn als einen Versöhner für Sünder zu glauben, unter welchen ich der Vornehmste bin. Einen Versöhner erwählt man sich nicht, verstehst du, und man schenkt ihm auch nicht sein Herz. Das Herz – das ist eine rostige Blechbüchse auf einem Müllhaufen. Wirklich ein feines Geburtstagsgeschenk! Aber da kommt ein seltsamer Herr gegangen und erbarmt sich der elenden Blechbüchse und steckt seinen Spazierstock durch und liest sie aus dem Dreck auf und nimmt sie mit nach Hause. So geht das zu ...‹«
Glaube ist kein Einsatz, den wir bringen könnten. Glaube ist ganz Geschenk Gottes. Deshalb gilt, was Walther in seiner These III sagt: »Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die schwierigste und höchste Christen- und Theologenkunst, die allein der Heilige Geist in der Schule der Erfahrung lehrt.«
Pless erhöht die Gemeindetauglichkeit seiner Ausführungen, indem er an das Ende jeden Kapitels Gesprächsanregungen setzt »zum Weiterdenken und Diskutieren«.
Damit aber nicht genug. Barnbrock reichert seine sehr gut lesbare Übersetzung mit zwei eigenen Beiträgen an, die fast ein Drittel des Bandes ausmachen.
So stellt Barnbrock in einem eigenen Aufsatz dar, dass das Thema der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium heutzutage nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, obwohl wichtige Autoren dies fordern. Zugleich zeigt Barnbrock, wie die Erkenntnisse zum Thema sich weiterentwickelt haben, wenn etwa Fritz Riemann die Persönlichkeitsstruktur des Predigers in den Blick nimmt. Krönender Abschluss des Bandes ist ein Anhang, in dem Barnbrock ein Abc von Kernsätzen zur Predigtarbeit zusammenstellt, die sich als ausnahmslos beherzigenswert erweisen.
Mein Fazit: Manches ist deutlich im nordamerikanischen Kontext verhaftet, und man muss nicht allen Erkenntnissen zustimmen. Dennoch ist diese Unterscheidungskunst ein »Muss« für lutherische Prediger und hilfreich für interessierte Gemeindeglieder, Hauskreise oder Bibelstundengruppen.
Hans-Jorg Voigt