Rezension
Zeitschrift für Evangelische Ethik, 60. Jg. 2016, Heft 1
Dass die Medizin auch einer Analytik der in ihr wirksamen Strukturen von Macht unterzogen werden kann (und muss) — gerade weil und wenn diese mit dem Autonomieprinzip in Konflikt geraten (können) — ist spätestens durch die einschlägigen Arbeiten Michel Foucaults unabweislich. Die Debatten zur Patientenautonomie, die auch gerade in kritischer Positionierung gegen vielfältige Formen und Erfahrungen medizinischer Macht als leitendes medizinethisches Prinzip entwickelt wurde, haben sich in vergangenen Dekaden schwerpunktmäßig auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und insbesondere auf den informed consent konzentriert. Die gesellschaftlichen und normativen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der Autonomiepraxis im medizinischen Kontext haben demgegenüber geringere Aufmerksamkeit erfahren. Insbesondere das komplexe Interaktionsgeflecht von Macht und Autonomie ist bislang im Hinblick auf das heuristische und inhaltliche Potential, das in der Reflexion ihres Wechselverhältnisses liegt, noch unterbestimmt.
Der Band »Autonomie und Macht«, der auf zwei Tagungen des »Arbeitskreises Medizin und Theologie« basiert, trägt zur Füllung dieser Lücke bei. Die Beiträge erschließen aus philosophischer und theologischer Perspektive zunächst das Konzept der Autonomie und Phänomene der Macht. Im abschließenden Teil werden Erscheinungsformen und Interaktionen von Autonomie und Macht in unterschiedlichen medizinischen Kontexten erörtert. Durchgängig bleibt der Band dabei seinem doppelten Konzept treu, die konkrete Relation zwischen Arzt und Patient in unterschiedlichen Situationen in den Blick zu nehmen und daran grundlegende Reflexionen anzuschließen.
Nach Ulrich H.J. Körtner umfasst Autonomie die Momente der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung, konkretisiert im Begriff der Adhärenz. Insofern medizinische Hilfeleistung auf Hilfsbedürftigkeit antworte, begründe sie ein notwendigerweise asymmetrisches und daher von Machtfragen durchzogenes Beziehungsgeflecht zwischen Arzt und Patient. Hierin Autonomie zu verwirklichen bedeute, die der Macht zu helfen innewohnende Ambivalenz zu erkennen und die sensible Balance zwischen Hilfe zur Selbsthilfe und einer übergebührlich zugemuteten Pflicht zur Selbsthilfe zu halten.
Im Anschluss an Adorno entwickelt Lukas Kaelin einen Begriff von Autonomie, der auch ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitbedenkt. Er skizziert ein Verständnis von Medizin als gesellschaftlichem System, das vom Sog zunehmender Technisierung mitgeprägt sei. Dieser Tendenz korrespondiere aber kein gleichlaufender Fortschritt in der Regelung sozialer Beziehungen. Autonomie in der Medizin sei daher nur als doppelte Bewegung von Selbstbestimmung und Gesellschaftskritik möglich.
In das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Verantwortung führt Angelika Walser aus feministisch-ethischer Perspektive ein. Um zwei Kurzschlüsse feministischer Theoriebildung — ein reduktionistisches Autonomieverständnis sowie die Tendenz zur Viktimisierung von Frauen in bioethischen Szenarien — zu vermeiden, votiert sie für ein Konzept einer relationalen Autonomie, die im Rahmen von Kompetenztheorien als unabschließbarer und zu fördernder Entwicklungsprozess zu denken sei.
In seinem zweiten Beitrag erschließt Lukas Kaelin Phänomene der Macht in der Medizin. Er unterscheidet dabei drei Ebenen, auf denen Machtstrukturen relevant werden können: als Herrschaft über den menschlichen Körper und die in ihm ablaufenden physiologischen Prozesse, im durch den einseitigen Kompetenz- und Wissensvorsprung notwendigerweise asymmetrischen Verhältnis von Arzt und Patient, schließlich in einer gesamtgesellschaftlichen Dimension, insofern Medizin als Schnittstelle konkurrierender Diskurse fungiere und darin einen gewissen Vorrang beanspruche.
Ulrike Butz zeigt auf, wie grundlegend vorausgesetztes und bewährtes Vertrauen für jede Interaktion zwischen Arzt und Patient sei, und wie leicht aus dieser konstitutiven Bedeutung eine Forderung nach Vertrauen werden könne, die Autonomie beschränke und Asymmetrien erzeuge bzw. verstärke. Pointiert stellt sie heraus, dass nicht nur der Patient dem Arzt, sondern auch der Arzt dem Patient und seiner Persönlichkeits- bzw. Entscheidungskompetenz vertrauen könne und letztlich müsse.
Roland Kipke betont, dass entgegen einer immer noch verbreiteten Auffassung das Autonomieprinzip nur in Verbindung mit und unter Voraussetzung von Konzepten eines guten Lebens sinnvoll und plausibel sei. Dabei hebt er als besondere Herausforderung hervor, Autonomie nicht nur als Wert, sondern als Recht zu begründen — gerade dazu bedürfe es aber einer adäquaten, nicht formalistischen, sondern in gewissem Sinne auch gehaltvollen theoretischen Fundierung.
Thomas Weiß wirft die Frage auf, wie das Problemfeld Macht und Medizin im evangelischen Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe thematisch werden könne. Er legt in konzentrierter Form die Skizze einer Unterrichtseinheit vor, die das Problemfeld sichtbar macht und erschließt, lebensweltliche Anschlussfähigkeit herstellt und mit Bezug auf den Erfahrungsraum der Schüler/innen bearbeitet.
Michael Peintinger gibt einen Überblick über Gefahren und Möglichkeiten autonomiebeschränkender Machtausübung in der Medizin, die gerade einem auf Selbstbestimmung gegründeten, aber in vielfältige strukturelle Bezüge eingebetteten Verhältnis von Arzt und Patient inhärent seien. Er betont dabei den Aspekt Kommunikation und ihre besondere Performanz innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung und hebt hervor, dass Erfahrungen von Macht und Ohnmacht sowohl auf Seiten des Patienten wie auch auf Seiten des Arztes möglich seien.
Julia Inthorn bettet ihre Überlegungen zu Macht und Autonomie in eine Diskussion zur ästhetischen Chirurgie ein. Vor dem Hintergrund einer Diffeenzierung unterschiedlicher Ebenen (personell, ideologisch, strukturell) und verschiedener Konzeptionen von ›Macht‹ stellt sie heraus, dass Selbstbestimmung und gesellschaftliche Normierung Pole eines Spannungsverhältnisses seien, das es nicht aufzulösen, sondern zu gestalten gelte. Konkret folge daraus, dass Patienten Gelegenheit haben müssten, sich zu sozialen Norm(alis)ierungen reflektierend zu verhalten, zumal sie durch ihre Entscheidungen zur Entwicklung gesellschaftlicher Vorstellungen und Strukturen affirmativ oder kritisch beitragen.
Anhand der tiefen Hirnstimulation diskutiert Henriette Krug den Umgang mit Therapien, die sowohl autonomiebeschränkend als auch autonomiefördernd wirken können. Der angemessene Umgang mit solchen Ambivalenzen schließe neben einer differenzierten Indikationsstellung und einer die Besonderheiten des Verfahrens genau zur Sprache bringenden Aufklärung vor allem auch Sensibilität für subjektive Erfahrungen ein, gerade wenn eine Therapie Effekte auf Selbstkonzept und Persönlichkeit haben könne.
Aus soziologischer Perspektive nimmt Gina Atzeni die Erscheinungsformen von und die Kritik an medizinischer Macht in den Blick. Was legitime medizinische Macht sei, unterliege einem beständigen Wandel, der sich sowohl in der Fremdbeschreibung als auch in autobiographischen Zeugnissen von Ärzten dokumentieren lasse. Letztlich sei die Fähigkeit, auf Entwicklungen in den Vorstellungen von ›Macht‹ und ›Autonomie‹ konstruktiv einzugehen, ein wesentliches Merkmal der ärztlichen Professionalität.
Lena Woydack und Julia Inthorn stellen heraus, wie prekär in der Palliativmedizin die praktische Beachtung von Autonomie im Verhältnis zu ihrer von allen Seiten als zentral eingeschätzten Relevanz werden könne. Eine engere Verknüpfung des fachspezifischen Diskurses mit der Reflexion medizinischer Praxis sowie medizinethischen Erwägungen könnten das Bemühen um eine tatsächliche weitere Stärkung von Autonomie im Kontext der Palliativmedizin unterstützen.
Es ist unzweifelhaft das Verdienst dieses Bandes, durch die Verknüpfung zweier Diskursstränge ein Forschungsfeld mit Grundlagen zu versehen und zu erschließen, das weitere Aufmerksamkeit aus interdisziplinären Perspektiven nicht nur verdient, sondern auch erfordert. ›Macht‹ und ›Autonomie‹ sind — das arbeiten die Beiträge klar heraus — nicht einfach als Gegenbegriffe zu verstehen, sondern können, wenn sie kritisch aufeinander bezogen werden, Wesentliches zur wechselseitigen Erhellung beitragen. Besonders hervorzuheben ist die Sensibilität, mit der alle Beiträge gerade subtile und implizite Wirkmechanismen von ›Macht‹ identifizieren und diskutieren. Vor allem Sprach- und Kommunikationsformen werden immer wieder zu Recht als Instrumente von teils auch unintendierter Machtausübung und Autonomiebeschränkung benannt und problematisiert.
Es ist zu hoffen, dass die damit ausgelegten Fäden rasch aufgegriffen und weitergesponnen werden, beispielsweise im Hinblick auf gegenwärtige Entwicklungen in der Gesundheitsversorgung — genannt seien nur als Schlagworte big data medicine und Systemmedizin.
Jens Ried