Rezension
Zeitschrift für Evangelische Ethik, 59. Jg. 2015, Heft 4
Das vorliegende Buch stellt eine erweiterte und aktualisierte Fassung der 2008 von der Vf. vorgelegten Dissertation (Marburg) dar. Hintergrund für die thematische Beschäftigung ist die kontroverse Diskussion in Deutschland um die Möglichkeit einer begrenzten Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik (PID). Durch die Entscheidung des Julis 2011 im deutschen Bundestag hat sich das Bild mittlerweile fundamental gewandelt, da nunmehr genau diese Option einer begrenzten Zulassung realisiert wurde. Nichtsdestoweniger bleibt die ethische Fragestellung weiterhin bestehen, ebenso die kontroverse Diskussionslage. Es ist unerlässlich, dass die jeweiligen Argumente auf ihre Plausibilität hin geprüft werden, zumal sich auch die Rahmenbedingungen (z.B. der Stand der aktuellen wissenschaftlichen Forschung) fortwährend verändern. Die im vorliegenden Buch diskutierten ethischen Kontroversen haben also nichts an ihrer Aktualität eingebüßt, zumal ja immer noch einige Länder mit konkreten Letztentscheidungen geizen. Österreich musste auf Druck des EGMR (Straßburg) das Fortpflanzungsmedizingesetzt novellieren, was im Zuge dessen auch 2015 zur begrenzten Legalisierung der PID führte. Die österreichische Bioethikkommission hatte sich längst mehrheitlich für eine Öffnung ausgesprochen, was bislang jedoch unbelohnt blieb. Auch aus der Schweiz liegen mittlerweile Signale zur Öffnung gegenüber der PID vor.
Die Vf. geht methodisch so vor, dass sie zunächst die äußerst einflussreiche prinzipienethische Position von Beauchamp und Childress und sodann die feministische Ethik (der Gesundheitsversorgung) von Susan Sherwin darstellt. Diese Ansätze werden daraufhin miteinander verglichen und hernach auf die ethische PID-Diskussion bezogen, um schließlich eine Bewertung vornehmen zu können. Dabei zeigt sich, dass trotz Ähnlichkeiten in den Empfehlungen doch auch recht große Unterschiede in der Begründung und den Konsequenzen bestehen, was wiederum zeigt, dass bereits »die Wahl des ethischen Ansatzes die Gewichtung kontextueller Details und damit letztendlich auch die Erarbeitung praktischer ethischer Urteile beeinflusst« (13).
In einem ersten großen Block wird von der Vf. der ethische Ansatz von Beauchamp und Childress (Principles of Biomedical Ethics, 1. Aufl. 1979) in seiner Allgemeinheit, also noch ohne direkten Bezug auf die PID-Diskussion, detailliert dargestellt. Dabei werden der deskriptiven Darstellung des Ansatzes von Beauchamp und Childress selbstverständlich auch kritische Rückfragen beigestellt, die sich im Laufe der intensiven Rezeption dieses Ansatzes herausgebildet haben. Dabei wird positiv verzeichnet, dass die Autoren mit jeder neuen Auflage ihres Werkes auf die bereits vorgetragenen Kritikpunkte reagieren und somit ihr Buch sukzessive modifizieren und erweitern. Es ist darum auch kaum zufällig, dass ihr Ansatz eine derart breite Rezeption und Verbreitung gefunden hat, ist er doch nicht an steilen Grundlagen- und Begründungsbedürfnissen orientiert, sondern letztlich an konkreten Fragestellungen und Problemlösungen, die in wenig aufgeregter Weise mit Prinzipien mittlerer Reichweite (»midlevel principles«) bearbeitet werden sollen. Darum erfreut sich ihr Ansatz auch bei vielen Akteuren in Gesundheitsberufen großer Beliebtheit, weil mit ihm sehr gut gearbeitet werden kann, ohne sich in diffizile oder metaphysische Detail- und Expertenprobleme vertiefen zu müssen. Freilich hat auch diese Position schon aufgrund der prinzipiellen Gleichrangigkeit der vier Prinzipien (Nichtschaden, Fürsorge/Wohltun, Autonomie, Gerechtigkeit) mit dem Problem zu kämpfen, welche Prinzipien in welcher Weise in konkreten Konfliktfällen nun faktisch zu privilegieren sind. Zwar bieten Beauchamp und Childress auch hier Lösungsverfahren an (Spezifizierung, Abwägung usw.), aber dieses reicht schlussendlich für konkrete Entscheidungspriorisierungen häufig nicht aus. Dies kann man als Nachteil, unter Bedingungen zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung aber auch als Benefit betrachten.
Ein zweiter großer Abschnitt wendet sich der feministischen Ethik (der Gesundheitsversorgung ) von Susan Sherwin zu. Dieser Ansatz ist weit weniger bekannt und rezipiert als jener von Beauchamp und Childress, was eine Beschäftigung mit ihm als lohnend erscheinen lassen kann. Der feministischen Perspektive von Sherwin geht es zentral um das Aufdecken und Verändern von vielschichtigen Macht-, Abhängigkeits- (Unterdrückungs-) und Diskriminierungsverhältnissen. Diese werden an sämtlichen ethisch relevanten Themen und Entscheidungssituationen als konkrete Perspektivierung herangezogen. Dabei kommt es bei Sherwin zu einer durchaus beabsichtigten Korrelierung von Ethik und Politik; eine Verzahnung, die von etlichen Autoren naturgemäß kritisch gesehen wird. Erwähnt sei, dass sich beide Positionen, also sowohl Sherwin als auch Beauchamp und Childress, in der ethischen Diskussion immer wieder mit dem Vorwurf des Relativismus konfron¬tiert sehen. Fraglich ist jedoch, wie man unter gegenwärtigen Bedingungen überhaupt gedenkt, einem Relativismus zu entgehen, wenn man auf Letztbegründungen und Absolutismen glaubt verzichten zu müssen.
Der m.E. zentrale Abschnitt des vorliegenden Buches beschäftigt sich nun mit der eigentlichen Kernfrage, wie nämlich die bereits dargestellten Positionen und herausgearbeiteten Argumentationslinien mit der aktuellen PID-Debatte verkoppelt werden können und zu welchen Konsequenzen bzw. Empfehlungen man hierdurch gelangt. Dabei ergibt sich für die Vf. das Ergebnis, dass sowohl die Prinzipienethik von Beauchamp und Childress als auch die feministische Position von Sherwin in letzter Konsequenz einer Legalisierung der PID zustimmen können, wenngleich beide Ansätze durchaus Vorbehalte einbringen. Erwähnt sei dabei allerdings, dass die Position von Sherwin innerhalb der feministischen Ethik keineswegs unumstritten ist und folglich zahlreiche feministische Autorinnen PID durchaus ablehnen — wenn auch mit meist unterschiedlich gewichteten Gründen. Bei Beauchamp und Childress wiegt das Nichtschadensprinzip (gegenüber Embryonen) im Gegenüber zum Autonomie- und Fürsorgeprinzip (gegenüber der potentiellen Mutter bzw. dem Paar) nicht stark genug, um PID abzulehnen — zumal sich insbesondere Childress dahingehend geäußert hatte, dass Embryonen keine gleichrangige Schutzwürdigkeit eingeräumt werden könne wie lebenden Menschen. Durch diese geminderte Schutzwürdigkeit und den wichtigen Prinzipien der Autonomie und der Fürsorge (bzw. des Wohltuns) kann ebenso wie bei Sherwin einer Legalisierung der PID zugestimmt werden, wobei auch Sherwin auf eine äußerst begrenzte Zulassung drängt, um Ausweitungstendenzen und Abhängigkeits- und Unterdrückungsbedingungen (Frauen werden auf ihre Mutterrolle fixiert; asymmetrische Beziehung zw. Arzt und Frau) entgegenzuwirken. In einem Abschlusskapitel bietet die Vf. noch eine Ergebnissicherung und einen kurzen Ausblick.
Insgesamt wird man sagen dürfen, dass der Vf. ein durchaus lesenswertes und informatives Buch gelungen ist (sieht man von nicht wenigen Rechtschreib- und Grammatikfehlern ab), das zugleich recht gut in die gesamte PID-Debatte einführt. Freilich ist der Novitätswert vergleichsweise überschaubar, da so gut wie alle Argumente, die für oder gegen die Zulassung der PID sprechen, in den ethischen Diskursen längst bekannt und zahlreich publiziert sind. Hinzu kommt der Umstand, dass sich Beauchamp und Childress nicht explizit zur PID-Debatte geäußert haben und ihr Standpunkt somit aus ihrem allgemeinen Ansatz herauskristallisiert werden muss. Neu am vorliegenden Buch ist die zentrale und konsequente Perspektivierung der Themenstellung vor dem Hintergrund der ethischen Ansätze von Beauchamp/Childress und Sherwin. Das limitiert aber zugleich wieder die Reichweite der Argumentation, weil eben lediglich zwei Ansätze herausgegriffen werden, während die gesamte Diskussion reichhaltiger und verzweigter ist. Durch das vorliegende Werk erhält die anhaltende PID-Debatte jedoch eine weitere Facette hinzugefügt. Darum sollen die kritischen Bemerkungen auch eine Leseempfehlung für das Buch nicht schmälern.
Andreas Klein