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Rezension

Zeitschrift für medizinische Ethik (61. Jg. 2015, Heft 3)

Dass die Bundesärztekammer eine wichtige Stimme im Konzert der medizinethischen Debatte in der Öffentlichkeit beansprucht und spielt, lässt sich in jüngster Zeit erneut an der wieder aufgeflammten Diskussion um die Zulässigkeit ärztlicher Hilfe beim Suizid erkennen. Dabei erreicht diese Stimme mehrere Hörerkreise zugleich. Die Positionierungen der verfassten Ärzteschaft sind sowohl an die Gesellschaft als Ganze, als auch an die von ihr vertretenen Medizinerinnen und Mediziner gerichtet. Mit ihren Festlegungen und Grundsatzerklärungen zu ethischen Problemen und Konflikten, deren Diskussion die moderne Medizin verlangt, erfüllt die Bundesärztekammer somit stets eine doppelte Funktion der Orientierung. In den verschiedenen Instrumenten und Formaten, in denen sich die Bundesärztekammer entsprechend äußert, werden den bundesdeutschen Ärztinnen und Ärzten – gewissermaßen nach innen – verbindliche Richtlinien für das tägliche (Be-)Handeln in der Praxis vorgegeben und gleichzeitig werden damit berufsständische Selbsterklärungen zu ethischen Fragestellungen formuliert und in ihrem repräsentativen Charakter – nach außen – der nichtmedizinischen Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Somit geben die Verlautbarungen immer auch Auskunft über das Selbstbild der Ärzteschaft und es liegt nahe, die Gesamtheit der in den vergangenen Jahrzehnten erschienenen Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen, Stellungnahmen und Memoranden als einen Textkorpus aufzufassen, in dem sich das Ethos der Bundesärztekammer niederschlägt und der sich als dessen Erklärungsort identifizieren lässt. Der Heidelberger Theologe und Arzt Fabian Kliesch hat sich in seiner Dissertation an die Analyse dieses für die ärztliche Profession identitätsstiftenden wie gesellschaftspolitisch bedeutenden Dokumentenberges gemacht und ein in Umfang und Detailliertheit beeindruckendes Ergebnis vorgelegt. Der Verfasser widmet sich dabei neben einer Nachzeichnung der historischen Hintergründe und einer eingehenden Textanalyse einzelner Verlautbarungen auch einem Vergleich des so herausgearbeiteten Ethos der Bundesärztekammer mit entsprechenden ethischen Konzepten und Positionen der Evangelischen Kirche Deutschlands. Um dieses groß angelegte Vorhaben sowohl für den Leser als auch den Autor in einem bewältigbaren Umfang zu halten, beschränkt sich Kliesch in seiner Untersuchung auf Verlautbarungen, die Themen des Lebensanfangs und des Lebensendes betreffen.
Gestützt auf eine Fülle von Dokumenten werden die wichtigsten Wegmarken der standespolitischen Begleitung und Rahmung höchst umstrittener Themen wie etwa des Schwangerschaftsabbruchs, der Reproduktionsmedizin und der Pränataldiagnostik akribisch rekonstruiert. So entsteht ein plastischer Eindruck der bewegten Vergangenheit und kontroversen Entstehungsgeschichte der jeweiligen für die medizinische Praxis zentralen Gesetze und Regelungen, der nebenbei auch Einblicke in die bundesdeutsche Rechts- und Sittengeschichte gewährt. Manche medizinethischen Konfliktfälle gewinnen durch die Vergegenwärtigung ihres historischen Vor-und Verlaufs eine Tiefe und Rahmung, die eine auf die Gegenwart fokussierte Diskussion schnell übergeht. Kliesch stellt nicht nur die heute relevanten Verlautbarungen der Bundesärztekammer zu Fragen der künstlichen Befruchtung, den Möglichkeiten pränataler Gendiagnostik oder ärztlicher Sterbebegleitung zusammen, um sie einer »diachronen Textanalyse« sowie einer genauen Begriffs- und Argumentationsanalyse zu unterziehen, er lässt auch die geschichtlichen Zusammenhänge nicht zu kurz kommen, wenn etwa die Wurzeln des Abtreibungsdiskurses bis ins Kaiserreich zurückverfolgt werden. In einer Verschrän¬kung von historischer Entwicklung und ethischer Auseinandersetzung gelingt es der Darstellung, anhand von zahlreichen Gesetzesentwürfen, kirchlichen Stellungnahmen, Gerichtsurteilen, der Skizzierung prominenter Fälle und öffentlicher Auseinandersetzungen die ausgreifenden Bezüge medizinethischer Kontroversen in parlamentarischen Debatten, gesellschaftlichen Entwicklungen und standesärztlichen Debatten deutlich zu machen und anschaulich nachzuvollziehen.
Dass das in dieser Form identifizierte und analysierte repräsentative Arztethos in weitgehend außerakademischen Gefilden seinen Aufführungs- und Austragungsort findet, ist dann wohl auch für den Umstand verantwortlich, dass die Verlautbarungen des Berufsverbandes Bundesärztekammer aus der theore¬tisch-begrifflichen Perspektive des Autors, die normativ-kritisch Begründungskraft und Kohärenz der präsentierten Argumentationen prüft, noch Verbesserungsbedarf aufweisen – was Kliesch mit der so treffenden wie zeitgemäßen Vokabel einer »Patchwork-Ethik« belegt. Doch sind wohl die so aufgezeigten Mängel in der ethischen Begründungsleistung, die die Verlautbarungen der Bundesärztekammer erkennen lassen, in erster Linie ihrer berufsständischen Funktion und gesundheitspolitischen Rolle geschuldet. Die Bundesärztekammer ist eben keine universitäre Forschungsgruppe zur Klärung begrifflicher Fragen und ethischer Theoriebildung, die allein auf die argumentationslogische Schlüssigkeit ihrer Positionen bedacht ist, sondern nicht zuletzt auch eine Interessenvertretung, der durchaus an öffentlicher Einflussnahme gelegen ist und die sich deswegen der tages- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zu stellen hat. Auch dies ein Charakteristikum, das sich an dem aktuellen Streit um eine Neuregelung ärztlicher Sterbebegleitung gut nachvollziehen lässt.
Tobias Eichinger

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Das Ethos der Bundesärztekammer

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Das Ethos der Bundesärztekammer

Eine Untersuchung ihrer Verlautbarungen zu Themen des Lebensanfangs und Lebensendes
Kliesch, Fabian

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