Rezension
Forum Katholische Theologie, 30. Jg. Heft 3/2014
Christoph Raedel, inzwischen Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen, legt als Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes ein kostbares Buch der Würdigung der Theologie von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. aus unterschiedlichen protestantischen Perspektiven vor. In acht Beiträgen, wovon drei Beiträge bereits andernorts veröffentlicht sind, nähern sich die Autoren — darunter zwei Frauen, der Herausgeber selbst und der katholische Kurienkardinal Kurt Koch — zentralen biblischen, theologisch-systematischen, ethischen, liturgischen und biographischen Kernthemen von Ratzinger / Benedikt an. Die sehr aufschlussreiche Einleitung zu diesem Vorhaben und der meditativ weiterführende Epilog zu Versen aus dem 3. Johannesbrief, denen der Titel des Buches »Mitarbeiter der Wahrheit«, der gleichzeitig der Wahlspruch von Joseph Ratzinger anlässlich seiner Bischofsweihe im Jahr 1977 war, entnommen ist, stammen vom Herausgeber selbst. Man kann vorausgreifend als abschließende Bewertung dieser kompakten Befassung mit Ratzinger / Benedikt festhalten, dass durch sie ein selten gelungener Beitrag zur Wahrnehmung der Theologie von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. geleistet wird, der sicher als der größte katholische Theologe des 20. Jahrhunderts gelten darf, größer etwa als ein Karl Rahner, weil in der Herkunft schriftbezogener, in der Gedankenführung tiefer und in der Sprache einfacher. Wenn auch kein Augustinus redivivus, so ist Ratzinger / Benedikt doch einer der größten Augustinusschüler überhaupt (vgl. dazu den sehr einfühlsamen Beitrag von Ulrike Treusch, »Leidenschaft für die Wahrheit«. Wahrheitsbegriff und AugustinusRezeption bei Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., S. 90–115) .
Der theologische Ernst der einzelnen Beiträge — nicht zuletzt fundiert in einem ausführlichen und sorgfältigen kritischen Apparat — entfaltet sich an den beiden elliptischen Brennpunkten der Theologie von Ratzinger / Benedikt, um die sein ganzes Denken in den unterschiedlichsten Gattungen von Veröffentlichungen (Traktakte, Vorträge, Predigten usw.) all die Jahre kreiste: am Christuszeugnis einerseits und an der Kritik der Diktatur des neuzeitlichen Relativismus andererseits. »Das Anliegen des Papstes, zur Begegnung mit der Wahrheit des lebendigen Gottes in Jesus Christus zu rufen und sich der Diktatur des Wahrheitsrelativismus entgegenzustellen, wird auf absehbare Zeit nichts an seiner Aktualität und Dringlichkeit verlieren« (S. 19). In der Konzentration auf diese beiden Brennpunkte ist aber gleichzeitig eine große ökumenische Weite angelegt, von der alle Autoren auf je eigene Weise fasziniert sind. Es ist quer durch die auch berechtigt kritischen Beiträge eine protestantische Sympathie für die Theologie von Ratzinger / Benedikt zu spüren (vgl. etwa bei Geoffrey Wainwright die Fußnote 6, S. 193). Sogar pfingstkirchliche Theologie ist voll des Lobes für seine Vision von Liebe, die als eine Leidenschaft der Liebe einand ist, »in dem drei Stränge ineinander verwoben sind: die Liebe zu Christus, die Liebe zur Kirche Jesu Christi und die Liebe zur Wahrheit des Evangeliums« (vgl. Cheryl Bridges Johns, Aus gleicher Leidenschaft. Eine Würdigung Benedikts XVI. aus pfingstkirchlicher Sicht, S. 173–190, hier 174). Ohne das Ringen um die Wahrheit dieser Liebe gibt es letztlich auch keine Gerechtigkeit und keine Barmherzigkeit unter den Menschen. Der Mensch kann ohne Wahrheit nicht leben. Die Wahrheit des Menschen aber ist Gott, die Wahrheit Gottes ist Jesus Christus. Vor diesem Hintergrund stellt sich für das Christsein bei uns nicht mehr zuallererst die Frage nach konfessioneller Lagerbildung, sondern die Frage, wofür evangelische und katholische Christen heutzutage gemeinsam eintreten können. »So werden wir Zeugen der Entstehung einer ›transkonfessionell orientierte(n) Gesinnungsökumene auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen‹« (S. 10). Und der Fokus unseres Christseins verschiebt sich »unter anderem vom Modus der Lehrverkündigung zum Grund und Gegenstand der Lehrverkündigung« (S. 11), weil nur so die Verkürzungen der modernen, rein positiven menschlichen Vernunft im Licht des Christusglaubens überwunden werden können.
Als grundsätzlicher Ausgangspunkt für die Entfaltung dieser Anliegen bietet sich die Auseinandersetzung mit den drei Jesusbüchern von Ratzinger / Benedikt an (vgl. dazu die ersten beiden Beiträge: Roland Deines, Der »historische« und der »wirkliche« Jesus. Die Herausforderung der Bibelwissenschaften durch Papst Benedikt XVI. und die dadurch hervorgerufenen Reaktionen, S. 20–66; Rainer Riesner, Das Christuszeugnis in den Jesus-Büchern des Papstes. Anmerkungen eines evangelischen Neutestamentlers, S. 67–89). Beide Autoren (Riesner mehr in der Darstellung einzelner wichtiger Themen in den Jesusbüchern, Deines in eher grundsätzlicher Art der Darstellung auch in den exegetischen Reaktionen auf die Jesusbücher) scheinen mehr vom Anliegen des Papstes verstanden zu haben als viele katholische Exegeten, die sich fast ausschließlich kritisch zu den Jesusbüchern äußerten und sich dabei oft unreflektiert als Neoprotestanten outeten (vgl. S. 83). Anliegen des Papstes war nichts anderes als den exegetischen Zugang zu Jesus dem Christus aus der Selbstbeschränkung der theologischen Vernunft auf pure Positivität (vgl. S. 24 ff) zu befreien und so den garstigen Gaben (vgl. S. 41) zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens zuzuschütten und die Trennung zwischen historischer und theologischer Wahrheit zu überwinden. Viele Theologen sind nicht bereit, sich auf dieses behutsam und werbend vorgetragene Anliegen des Papstes einzulassen. Sie müssten ja nicht nur ihre Theologie, sondern auch ihr Leben als Theologen ändern.
Ist einmal die Basis der Heiligen Schrift in der Theologie Ratzingers / Benedikts erkannt, kann man auch den sich daraus ergebenden systematischen Konsequenzen folgen. Werner Neuer (Heil in allen Religionen? Das Zeugnis von der alleinigen Erlösung durch Jesus Christus in der Religionstheologie Joseph Ratzingers, S. 116–137), einer der profiliertesten protestantischen Kenner des Schrifttums des emeritierten Papstes, zeigt auf bezwingende Weise, dass in der Theo-Logik von Ratzinger / Benedikt das alleinige und endgültige Heil nur in Jesus Christus gegeben sein kann, womit die nichtchristlichen Religionen in ihrer Ambivalenz von Heilsvorbereitung und Heilshindernis wahrgenommen werden müssen und damit auch jeglicher pluralistischen Religionstheologie eine Absage zu erteilen ist. Eine derart faire und prägnante Zusammenfassung der Erklärung Dominus Jesus (vgl. S. 129–135) wie bei Neuer muss man in diesem Zusammenhang bei katholischen Theologen weit suchen.
Christoph Raedel weitet das systematische Feld mit seinem umfangreichen und zugleich äußerst spannend zu lesenden Beitrag (Begründung und Bewährung christlicher Ethik bei Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., S. 138–172) auf die ethische Fragestellung hin aus. Dass diesbezüglich bei Ratzinger / Benedikt fundamentale Einsichten und Äußerungen vorliegen, ist weithin eher unbekannt. Dass Raedel nun prüft, »wie Ratzinger die Leistungsfähigkeit der Vernunft in Hinsicht auf das Erfassen letzter ethischer Prinzipien beurteilt (1), in welchem Begründungsverhältnis Kirche und Ethik zueinander stehen (2) und wie sich die Prinzipien des natürlichen Sittengesetzes zum Proprium biblisch-christlicher Ethik verhalten (3)« (S. 139), zeigt nicht nur die Kraft des ethischen Gedankens bei Ratzinger / Benedikt, sondern führt auch auf gelungene Weise (am Beispiel des natürlichen Sittengesetzes oder der Auseinandersetzung mit konkreten Fragen wie z. B. »Ehe und Homosexualität« oder »die Achtung vor dem menschlichen Leben von der Zeugung bis zum Tod«) zur von ihm beschworenen Zeugnis-Ökumene. Neuer und Raedel müssten in jedem katholisch-theologischen Lehrbuch stehen. Komplettiert wird der systematische Gedankengang durch den Beitrag von Geoffrey Wainwright (Heilung vom Relativismus. Die Liturgie als performatives Wahrheitszeugnis, S. 191–220). Der Ansatz, Liturgie als Heilung vom Relativismus zu verstehen und auch zu praktizieren, ist vor allem dem Buch von Joseph Ratzinger »Der Geist der Liturgie« entlehnt. Wenn auch sehr nacherzählend macht Wainwright durch seine ausführliche Vorstellung dieses Buches Lust darauf, es zu lesen oder wieder zu lesen, um liturgischem Wildwuchs nicht nur auf evangelischer, sondern in gleicher Weise auf katholischer Seite zu wehren und eine performative liturgische Antirelativismuskultur zu fördern, die für den modernen Menschen heilsam ist.
Kurt Kardinal Koch rundet mit seinen Ausführungen zur Pilatusfrage (»Was ist Wahrheit?« — Dogma des Relativismus oder Frage auf Leben und Tod? Versuch einer Replik, S. 221–237) diese evangelisch-ökumenische Annäherung an zentrale Themen in der Theologie von Ratzinger / Benedikt ab. Dabei lässt er nicht nur noch einmal ein fein ziseliertes Bild des großen Theologen in der Spannung der genannten elliptischen Brennpunkte entstehen, sondern deutet auch ekklesiologische Defizite in protestantischen Kirchen und ihren Theologien an, ohne deren Überwindung eine Einheit unter einem wie auch immer gearteten Petrusdienst nicht entstehen kann. Gleichwohl ist das vorliegende Buch ein Buch tiefer theologischer Brüderlichkeit unter den Konfessionen und ein Zeugnis großer ökumenischer Hoffnung. Es ist nicht nur als ein Buch zu empfehlen, das kompakt und kenntnisreich in die Theologie von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. einführt, sondern auch als ein Buch gegen ein flaches Verständnis und eine flache Praxis des Papstamtes zu lesen.
Hubert Windisch