Rezension
Zeitschrift für Evangelische Ethik, 58. Jg. 2014, Heft 2
Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind hervorgegangen aus einer 2010 veranstalteten Tagung des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin in Wien. Sie sind inhaltlich und methodisch sehr unterschiedlich in Qualität und Charakter. Zusammengehalten werden sie durch den im Untertitel programmatisch formulierten Anspruch, eine Topographie des ethischen Nachdenkens in der Medizin zu bieten.
Der damit avisierte Anspruch ist allerdings so umfassend, dass es kaum verwundert, dass er durch die Beiträge des Bandes nicht eingeholt wird. Deutet doch der Begriff der Topographie an, dass hier das gesamte Gelände der Medizinethik vermessen. werden soll. Allerdings wird diese umfassende Anspruch schon durch den Haupttitel und durch die Einleitung von Julia Inthorn begrenzt: Es geht allein darum Ethik als »institutionalisierten Bestandteil [...] der Medizin« (7) zu vermessen. Allerdings bleibt die Topographie auch im Blick auf diese Themenbegrenzung lückenhaft. So beschäftigt sich keiner der Beiträge mit der Arbeit klinischer Ethikkomitees und der Praxis der Ethikberatung in Krankenhäusern, die inzwischen eine weit verbreitete Form der Institutionalisierung von Ethik darstellen. Eine konstruktiv-kritische Analyse dieser Praxis vor dem Hintergrund der darin vollzogenen Institutionalisierung von Ethik als Verfahren wäre sicher aufschlussreich. Im Blick sind hingegen Institutionalisierungen in Form von Ethikkommissionen (Atzeni, Druml) und ärztlicher Standesethik (Kliesch). Außerdem werden ethische Aussagen von Leitbildern im Gesundheitswesen (Szlezak), die Ökonomisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses (Krause), die Rolle der Ethik im Gesundheitswesen allgemein (Klein) und die gesellschaftlich-politische Dimension des Ethikdiskurses (Körtner) in den Blick genommen.
Auf der anderen Seite wird der so umrissene Anspruch des Bandes auch immer wieder überschritten, weil einzelne Beiträge sich weniger auf das Phänomen der Institutionalisierung beziehen und stattdessen gegenwärtig diskutierte ethische Fragestellungen behandeln, wie z.B. die tiefe Hirnstimulation (Krug, Bittner), Neuroethik (Eßmann) oder auch narrative Konzepte der Ethik (Bittner) und tugendethische Ansätze (Eichinger).
Die Schwierigkeiten in der Gesamtkonzeption des Bandes allerdings sollen nicht den Blick dafür verstellen, dass einzelne Beiträge des Bandes durchaus lesenswert sind: So sind z.B. die Sondierungen zu den Begriffen Bioethik und Biopolitik, die Ulrich H.J. Körtner vorlegt, aufschlussreich und in mancher Hinsicht weiterführend. Körtner nimmt das Verhältnis von Ethikdiskurs und politischer Gestaltung der Gesellschaft in den Blick und verweist darauf, dass schon seit Aristoteles Ethik und Politik ineinander greifen, insofern es in der Politik um die Gestaltung des bios politikos geht (43). Darum ist »die Bioethik so alt wie die Politik« (44). Insofern liegt es nahe, dass sich auch in der modernen Demokratie Bioethik und Biopolitik aufeinander beziehen. Allerdings ergibt sich hier nach Körtner die Gefahr, dass sich die Politik hinter der professionalisierten und institutionalisierten Bioethik versteckt, indem ethische Entscheidungen aus den politischen Gremien in ethische Fachgremien verlagert werden (46f.). Hier haben Ethik und Theologie die Aufgabe auch auf die Grenzen der Moral hinzuweisen (48). Zu einfach erscheint dem Rezensenten allerdings der Schluss, dass der Konsens Angelegenheit der Ethik, der Kompromiss hingegen Angelegenheit der Politik sei, so dass das politisch gesetzte Recht in der Regel einen Rahmen absteckt, der weiter ist »als es einer strengen bioethischen Position entspricht« (54). Weiterführend wäre es vermutlich auch, der Frage nachzugehen, wieso in der modernen Demokratie ethische Entscheidungen in politische Prozesse überführt werden und was das für das Verhältnis von Ethik und Politik aussagt.
Die Idee, anthropologische und ethische Entscheidungen in den Unternehmensleitbildern von Krankenhäusern zu untersuchen (56–64), ist vor dem Hintergrund der Fragestellung des Bandes sicher weiterführend. Szlezak fokussiert in ihrer Untersuchung dabei v. a. die Bedeutung von Menschenbildern in Leitbildern und nimmt insbesondere die weltanschauliche Bindung von Menschenbildern am Beispiel des sog. »christlichen Menschenbildes«, das in vielen Leitbildern prominent auftaucht, kritisch unter die Lupe. Szlezak kritisiert, z.T. sicher zu Recht, dass aus einem Menschenbild nicht direkt folgt, »wie Menschen in bestimmten Situationen handeln sollen bzw. wie Menschen in bestimmten Situationen behandelt werden sollen« (62). Der Begriff des Menschenbildes im Kontext eines Leitbildes suggeriere aber, es gäbe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Deskription und normativem Anspruch (63). Dass dieser Zusammenhang nicht unmittelbar herzustellen ist, kann andererseits aber auch nicht heißen, dass es diesen Zusammenhang gar nicht gibt, wie Szlezak zu meinen scheint. Insgesamt ist in diesem Beitrag die Komplexität des Zusammenhangs von Weltanschauung, moralischer Orientierung und ethischer Begründung zu wenig reflektiert. Schon die Annahme, ein Menschenbild sei eine Deskription (63) dürfte leicht zu hinterfragen sein, erst recht die Behauptung dass Weltanschauungen als bloße Anschauungen nichts zur ethischen Begründung beitragen (ebd.). Insofern ist die Fragestellung dieses Beitrages spannend, aber die inhaltliche Durchführung kann nicht überzeugen.
Lesenswert sind hingegen die Beiträge von Krug und Bittner, die sich in unterschiedlicher Perspektive mit Fragen der Narrativität befassen, auch wenn das Thema sich in die Gesamtkonzeption des Bandes nur begrenzt einfügt. Am Beispiel der ethischen Probleme im Zusammenhang mit der Tiefen Hirnstimulation zeigen Krug und Bittner zunächst, dass der in der Medizinethik verbreitete prinzipienethische Ansatz von Beauchamp und Childress hier an seine Grenzen stößt, weil er keine Aussagen zum Grundproblem »der Integrität der personalen Identität oder nach dem Gehalt subjektiver Erfahrungen mit Hirnstimulation« erlaubt (116). Darum schlagen sie vor, den prinzipienethischen Ansatz um Aspekte einer narrativen Ethik zu ergänzen. Dabei kommen Narrationen hier v. a. als Selbsterzählungen von Betroffenen in den Blick, die in einer qualitativen Interviewstudie erhoben wurden (119). Narrativer Ethik geht es also darum »die Perspektiven von Patienten und Betroffenen verstärkt in die ethische Beurteilung mit einzubeziehen« (119). Vorausgesetzt wird dabei ein Begriff narrativ konstruierter personaler Identität, der aber nicht eigens entwickelt wird, sondern für den lediglich auf die Arbeit von Dieter Thomä verwiesen wird (120). Aus den qualitativ-empirischen Arbeiten zu den Selbsterzählungen ergibt sich, dass eines der Grundprobleme der Tiefen Hirnstimulation die Technisierung des menschlichen Körpers und insb. des Gehirns ist (120f.).
An diese Studie schließt sich ein eigener Text von Bitter an, der grundlegend die Möglichkeiten narrativer Ethik thematisiert. Auch hier verweist Bittner darauf, dass »erst im Modus des Erzählens eine ›Einheit des individuellen Lebens‹ kreiert werden« (131) kann. So ermöglicht auch erst die Erzählung eine Vermittlung dessen, »wie es sich anfühlt, mit einer bestimmten Krankheit und/oder Therapieform sein Leben zu führen« (132) und ermöglicht damit Patienten und Patientinnen oft erst eine Entscheidung bezüglich bestimmter Therapieoptionen.
Der vorliegende Band kann in seiner Gesamtkonzeption zwar nicht überzeugen, bietet aber einige interessante und lesenswerte Einzelstudien. Insgesamt ist die Qualität der Beiträge aber sehr unterschiedlich zu bewerten. Die aufgeworfenen Fragestellungen, das gilt gerade auch für die Fragestellung des Gesamtwerkes, sind allesamt wichtig und weiterführend. Zu wünschen ist, dass diese Fragestellungen im ethischen Diskurs weiter verfolgt werden.
Michael Coors