Rezension
Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 04/2014
Evangelikal geprägte Theologie hat längst alte antirömische Affekte abgelegt. Gerade Papst Benedikt XVI. hat sich als exponierter Koalitionspartner in Fragen des Glaubens und der Ethik angeboten. Ein Dokument dieser Annäherung liegt in dem hier vorgestellten Aufsatzband vor. Raedel hat sieben Beiträge aus dem Spektrum »schriftgebundener evangelischer Theologie« zusammengetragen und durch die Replik Kardinal Kochs vom Päpstlichen Einheitsrat ergänzt (221–237), um schließlich im Sinn einer eingangs dargelegten »geistlichen Ökumene zum Zeugnis für die Welt« (10–14) alle Christen aufzufordern, »Jesus Christus als lebendige Wahrheit zu bezeugen und der Diktatur des Relativismus zu widersprechen.« (244)
Die Neutestamentler Roland Deines und Rainer Riesner verteidigen Ratzingers Jesus von Nazareth-Bücher gegen exegetische Kritik. Deines fordert mit Ratzinger »die methodologische Offenheit für das Eintreten Gottes in die menschliche Geschichte« (62). Riesner setzt den Ansatz fort und stellt sich in einer ganzen Reihe von Punkten — etwa der Realität der Auferstehung — hinter Ratzinger. Ulrike Treusch erarbeitet Ratzingers Wahrheitsbegriff aus dessen Augustin-Rezeption und verleiht ihm damit Tiefe. Die geistige Verwandtschaft zu Luther, der Ausgangspunkt beim Wort Gottes und der christliche Wahrheitsanspruch zeigen ihr »Anknüpfungspunkte für die protestantische Theologie« (114).
Werner Neuer stimmt Ratzingers Widerspruch gegen pluralistische Religionstheologien zu und plädiert mit ihm für »die dogmatische Notwendigkeit der weltweiten Mission der christlichen Kirche« (122). Raedel selbst lotet die Möglichkeiten einer gemeinsamen Begründung christlicher Ethik aus, die ein gemeinsames Zeugnis »für die Achtung des menschlichen Lebens in allen Phasen seiner Existenz, für den Schutz von Ehe und Familie sowie für die Freiheit der Religionsausübung« (169) fördern könnte. Mit Cheryl Bridges Johns kommt eine pfingstkirchliche Theologin zu Wort, die auch die Auseinandersetzung Ratzingers mit der Befreiungstheologie beleuchtet. Sie bescheinigt Ratzinger eine Leidenschaft »für Christus, für die Kirche und für das Evangelium« (190). Das »Ende der protestantischen Ära« (188) könnte Pfingstler und Katholiken auf den Plan rufen, gemeinsam eine »neue Theonomie« (189) anzubieten. Geoffrey Wainwright nimmt sich mit Kunst, Musik und Liturgie eines weiteren Themenspektrums im Schaffen Ratzingers an, das offenkundig auch er durch Relativismus bedroht sieht. Befremden muss freilich, wenn er hier seine Hoffnung auch auf die lehramtliche Autorität des Papstes setzt. Hinter der Feststellung von gemeinsamen Herausforderungen und Überzeugungen werden in diesem Band bleibende Differenzen nicht geleugnet, aber deutlich zurückgestellt. Beispiel sei die Sorge von Exegeten über die Rolle des Lehramtes, »die für nichtkatholische Exegetinnen und Exegeten sowieso irrelevant« sei (Deines 27). Dass ein ökumenisches Ringen um Wahrheit sich so leicht nicht aus der Affäre ziehen kann, wird daran erkennbar, in welcher Deutlichkeit Kardinal Koch dem Sola scriptura eine Absage erteilt und ergänzt, »dass die Heilige Schrift selbst ein Buch der Kirche ist ... und deshalb in dem Geist ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben worden ist«. (230)
Auch wer nicht im Einzelnen dem Wahrheitsanspruch und der Relativismuskritik der Autoren folgen mag, wird doch in jedem Beitrag auf Anknüpfungspunkte in Ratzingers Theologie hingewiesen, die einem »geistlichen Ökumenismus« fruchtbare Impulse bieten können, insbesondere dann, wenn die Wahrheit Jesu Christi in den Mittelpunkt gestellt und nicht mit weltanschaulicher Selbstgerechtigkeit verwechselt wird. Herausgeber, Autoren und Verlag ist zu danken, dass dieses Projekt auch nach dem überraschenden Rücktritt des Papstes aus dem Land der Reformation vollendet wurde.
Thorsten Maaßen