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Rezension

Theologische Revue 01/2014

Wenn man am 31. Oktober 2017 das Fünfhundertjahresjubiläum der Reformation begeht, wird auch an das Reformationsfest von 1817 und an die sog. preußische Union zu denken sein, deren offizieller Beginn auf diesen Tag datiert wird. König Friedrich Wilhelm III., der Preußen von 1797 bis 1840 regierte und dem die Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirchen in seinem Herrschaftsgebiet nicht nur ein politisches, sondern durchaus auch ein Anliegen persönlicher Frömmigkeit war, nahm damals an einer Abendmahlsfeier der beiden vereinten Hof- und Garnisonsgemeinden in Potsdam teil. Nicht allen war indes zum Feiern zumute. V. a. in Schlesien kam es zu heftigen Protesten gegen die protestantische Union und zur Trennung der sog. Altlutheraner von der preußischen Kirche. Unter der Führung des Breslauer Pfarrers und Professors Johann Gottfried Scheibel schlossen sie sich anlässlich der Zentenarfeier der Confessio Augustana zu einem selbstständigen Kirchentum zusammen, was die Amtsenthebung zahlreicher Professoren einschließlich Scheitels und Repressionen mannigfacher Art gegen Gemeindeglieder zur Folge hatte. Am Weihnachtsabend des Jahres 1834 wurde in dem schlesischen Dorf Hönigern im Kreis Namslau die bisher lutherische Kirche militärisch eingenommen. Erst nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. entspannte sich die Lage, und den Altlutheranern wurde konzediert, sich ihrem Selbstverständnis gemäß als Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen getrennt von der preußischen evangelischen Landeskirche, der späteren Evangelischen Kirche der altpreußischen Union zu etablieren.
Die Zeit der Entstehung von preußischer Union und altlutherischer Kirche hat schmerzliche und leidvolle Erfahrungen mit sich gebracht. Sich ihnen gemeinsam zu stellen und dabei nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft ekklesiologisch und bekenntnistheologisch im Blick zu haben, war Ziel eines ersten wissenschaftlichen Austausches zwischen Vertretern und Vertreterinnen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), die sich dem Altluthertum verpflichtet weiß, und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), die, wie schon ihr Name sagt, bei allen internen Unterschieden in der Nachfolge der unionistischen Tradition steht. Das von UEK und SELK gemeinsam einberufene Kolloquium, das im Februar 2013 in der Leucorea in Wittenberg stattfand, ist in dem vorliegenden Sammelband dokumentiert. Das Treffen wird von den Hg.n mit Recht als »ein Meilenstein in der theologisch-kirchlichen Erforschung und Aufarbeitung gemeinsam-getrennter Geschichte« (13) bezeichnet.
Die Trennungs- und Kirchwerdungsgeschichte von preußischer Union und selbstständigen lutherischen Kirchen bis 1850 wird zunächst im Blick auf Scheibel und die »Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen« zur Darstellung gebracht (Johannes Hund); motivgebend für den altlutherischen Widerstand gegen die Union war eine grundlegende Kritik am Territorialsystem, die Forderung einer Staatsfreiheit der Kirche und die Ablehnung des zeitgenössischen Rationalismus, als dessen Vorläufer man die reformierte Kirche ansah (vgl. 78ff). Im Vergleich dazu »bleiben die ekklesiologischen Grundlagen der Union undeutlich« (97). So lautet das Fazit eines Beitrags über Grund und Gestalt der preußischen Union im Lichte ihrer Auseinandersetzung mit den schlesischen Altlutheranern (Hellmut Zschoch): »Die Enttheologisierung der Kirchenleitung und das territorialistisch gesteigerte Landeskirchentum in Verbindung mit dem antirevolutionären Affekt der Regierenden sind auf der Seite der Union für die Eskalation des Konflikts mit den Altlutheranern verantwortlich, in dem eigentlich konfessionsspezifische Fragen eine zunächst bemerkenswert marginale Rolle spielen.« (98)
Genaueres über Union und Bekenntnisbindung sowie über Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 19. Jh. wird in vier Folgeartikeln beigetragen (Albrecht Geck; Gilberto da Silva; Christoph Barnbrock; Jürgen Kampmann). Ein Beitrag zur Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität im 20. Jh. schließt an, wobei auch die Rolle des »Liturgikers auf dem Thron« (158) im Agendenstreit zur Sprache kommt. Probleme von Genese und Geltung kirchlicher Bekenntnisse werden in dem Abschnitt über »Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung« verhandelt (Frank Martin Brunn; Andrea Grünhagen; Henning Theißen). Dass bekenntnistheologische Fragen bis heute relevant sind, belegen neben einer Studie zur Weggemeinschaft von Bekennender Kirche und Altlutheranern im »Kirchenkampf« (Christian Neddens) insbes. die Untersuchungen zum Verhältnis von Kirchen-, Abendmahls- und Bekenntnisgemeinschaft (Eilen Herms; Armin Wenz) sowie zu Ekklesiologie und kirchlicher Identität (Hans-Peter Großhans; Werner Klän). Mit besonderem Nachdruck sei die Lektüre von Kläns Beitrag zur »Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen« (317ff) anempfohlen, weil dort informiert und systematisch präzise die kritischen Anfragen auf den Punkt gebracht werden, die sich aus der Sicht der SELK theologisch und hermeneutisch in Bezug auf das bekenntnistheologische und ekklesiologischen Selbstverständnis der UEK, eher nicht minder der EKD oder auch der VELKD stellen.
Von hohem aktuellen Interesse weit über den Bereich der SELK hinaus sind insbes. Kläns Überlegungen zu den die Kircheneinheit betreffenden Implikationen des »satis est« im VII. Artikel der Confessio Augustana, der u. a. für die Verständigungsprozesse innerhalb der Leuenberger Kirchengemeinschaft von grundlegender Bedeutung ist. Während der gegenwärtige Präsident des Kirchenamts der VELKD mit der These zitiert wird, Konsens in der Lehre stelle keine Voraussetzung für Kirchengemeinschaft dar (vgl. 328 Anm. 52; 339 Anm. 97), insistiert K. auf Lehrkonsens als der Bedingung möglicher Kirchengemeinschaft und widerspricht dezidiert Friedrich Hauschildts Auffassung, dass Kirchengemeinschaft ohne lehrmäßige Übereinstimmung für lutherische Kirchen ein denk- und gangbarer Weg sei, der ihre konfessionelle Identität in kirchlicher Verbindlichkeit nicht beeinträchtige. Der Vollzug der Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament, so das entscheidende Argument K.s, »ist nicht ablösbar von der inhaltlichen Bestimmung eben dessen, was unter Evangelium nach dem Befund der Heiligen Schrift zu gelten hat« (334). Von der doktrinellen Dimension einer Kircheneinheit dürfe daher nicht abstrahiert werden. Ohne sie könne weder über die Reinheit der Evangeliumsverkündigung noch über die stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung angemessen und einvernehmlich befunden werden. In diesem Sinne stellt nach K. der Konsens in der Lehre ein konstitutives Element kirchlicher Einheit dar. Zwar sei dieser Konsens den Gnadenmitteln und ihrem Vollzug, welcher das Wesen der Kirche ausmache, nicht gleich-, sondern nach- und zugeordnet; aber er verlange »nach verbindlicher und kommunikabler, d.h. fassbarer, überprüfbarer Sprachgestalt« (338). Dies ist eine bemerkenswerte These, über die intensiver als üblich nachgedacht werden sollte. Nicht dass durch sie das von CA VII aufgegebene Problem beseitigt wäre; es ist aber mit einer Klarheit wahrgenommen, ohne die bekenntnishermeneutische Fragen prinzipiell keiner Lösung zuzuführen sind.
In seiner Festrede zu Eph 4,15f anlässlich der 150-Jahr-Feier der damaligen Evangelischen Kirche der Union am 5. November 1967 gestand Präses Franz-Reinhold Hildebrandt bei aller Dankbarkeit für die von Friedrich Wilhelm III. initiierte Kirchenunion offen und ehrlich die Verfehlungen ein, die auf dem Weg ihres Zustandekommens verschuldet wurden. »Mit Beschämung bekennen wir, dass es bei der Durchsetzung der Union nicht an Anwendung von Gewalt gefehlt hat.« (20) Hildebrandts Predigt ist zusammen mit zwei Analysen ihres Textes zu Beginn des Sammelbandes dokumentiert. Der Grundsatz, den Dank für kirchliche Einigungsprozesse mit dem Eingeständnis schuldhafter Trennungen zu verbinden, die wenn nicht durch die intendierte Einigung, so doch häufig durch verkehrte Mittel bedingt waren, sie zu erreichen, wurde nach Maßgabe des Vorworts der Hg. »zum Ausgangs- und Angelpunkt dieses Buches« (9). Er könnte und sollte in entsprechender Funktion auch der Planung des Reformationsgedenkens 2017 dienlich sein: »Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus [...]« (Eph 4,15).
Gunther Wenz

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Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen

Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche
Kampmann, Jürgen/Klän, Werner/Barnbrock, Christoph/Brunn, Frank Martin/Geck, Albrecht/Großhans, Hans-Peter/Grünhagen, Andrea/Herms, Eilert/Hüffmeier, Wilhelm/Hund, Johannes/Neddens, Christian/Noack, Axel/Schwier, Helmut/Silva, Gilberto da/Stolle, Volker/Theißen, Henning/Wenz, Armin/Ziegler, Roland/Zschoch, Hellmut/Schindehütte, Martin/Voigt, Hans-Jörg

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