Rezension
Mediaevistik (Band 25/2012)
Die sehr ansprechende äußere Gestaltung dieses Buches lässt zunächst einmal vergessen, dass der Titel im Grunde nur an Philologen oder altsprachlich gut ausgebildete Leser gerichtet ist. Erst der Untertitel schafft einen auch der Allgemeinheit verständlichen Einblick in die Intention des Herausgebers, die im Vorwort verdeutlicht wird: Aus der Fülle der unterschiedlichen Beiträge ergebe sich »ein paradigmatischer Einblick in eine Epoche, die so reich und vielgestaltig« sei, dass sie immer mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich ziehe, und die »keineswegs als Kronzeugin für Dekadenzkonzeptionen dienen« könne (5). Die Spätantike – in der jüngeren Forschung vor allem durch die Althistoriker, bei der großen Konstantin-Ausstellung in Trier im Jahre 2007 auch von theologischer Seite gewürdigt – ist damit auch in der Klassischen Philologie als Epoche eigenen Charakters und spezieller Herausforderungen verankert.
Mit gutem Recht könnte man den Untertitel auch ein wenig erweitern, denn die »pagane Kultur« dieser Zeit gewinnt ihren Stellenwert nicht zuletzt aus der Konfrontation mit dem frühen Christentum: Das müsse – so der Herausgeber in seinem zweiten Buchbeitrag – die »traditionellen Bildungsgüter« nicht einfach übernehmen, könne sie aber »als Gegenstand der Literatur«, mithin also »nicht des Glaubens«, bewahren (184). – Dieser Gedanke wird unten noch einmal interessieren.
Auf ein in diesem Sinne tolerantes Miteinander zielt auch der Titel des Buches. Das Zitat führt mitten hinein in die Auseinandersetzung um den Victoria-Altar. Die Hintergründe dürften einer breiteren Leserschaft eher unbekannt sein; deshalb seien sie hier kurz skizziert. Seit augusteischer Zeit war die ara Victoriae Symbol der Sieghaftigkeit und der Unvergänglichkeit des römischen Reiches; die Senatoren opferten der Göttin vor jeder Sitzung. Kaiser Gratian, ganz sicher beeinflusst vom Papst Damasus I. und dem Mailänder Bischof Ambrosius, ließ 382 diesen Altar aus der curia des Senats entfernen. Der Aufschrei war riesig. Die Römer entsandten ihren hochbedeutenden Rhetor Symmachus an den Hof in Mailand, der mit seinem berühmten Vortrag – es ist die dritte relatio – den Kaiser umstimmen sollte (vgl. die kurze, aber informative Zusammenstellung bei Ingemar König, Die Spätantike, Darmstadt 2007, 61f.).
Aus dieser überaus wichtigen Rede stammt auch der Titel des Buches, der in
vollständiger Form, wenngleich ohne Nachweis, gleich zu Beginn des Vorwortes (S. 5) noch einmal zitiert ist. Symmachus, Relatio 3, 8: Suus enim cuique mos, suus ritus est: Ein jeder Mensch also habe eigene Gebräuche und eigene Riten (diese relatio und die beiden Gegenbriefe des Ambrosius zusammengestellt in: Simmaco, Ambrogio: L’altare della Vittoria; a cura di Fabrizio Canfora, con una nota di Luciano Canfora, Palermo 1991; Zitat S. 148).
Diesem Text des Symmachus widmet sich im zweiten Beitrag dieses Bandes Richard Klein: »Die dritte Relatio des Symmachus – Ein denkwürdiges Zeugnis des untergehenden Heidentums« (25–58). Klein greift auf eigene Untersuchungen aus den 1970er Jahren zurück (die benannte handliche Zusammenstellung durch Canfora erwähnt er bei den Symmachus-Editionen [v.a. S. 27 Anm. 5] allerdings nicht). Er untersucht den formalen Aufbau dieses »eindrucksvollen Dokuments altrömischer Würde« (37) sowie die inhaltlichen Merkmale (42–45), und er erinnert an den Charakter dieser relatio: Sie sei ein Ersuchen, keine Forderung (45). Denn die Position, die Symmachus vertrat – die Ausrichtung an den exempla maiorum (34), die schließlich in seiner relatio zum Auftreten der Roma Aeterna führte (48) –, konnte er angesichts der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen in diesem vierten Jahrhundert nicht erzwingen. Somit war das Toleranzverständnis des Symmachus (51), sein Wunsch nach humanem Auskommen mit den Christen (36) recht eigentlich ein Gebot der Stunde . Ob allerdings, wie Klein abschließend formuliert, hier »erstmals die moderne Idee der grundsätzlichen Toleranz klassisch formuliert« wurde (58) oder ob wir dafür nicht bereits die gegenseitige Anerkennung der Heilerfolge Christi und des Gottes Asklepios im 2. Jahrhundert in Anspruch nehmen sollten (vgl. Iustinus Martyr, Apologie I, 22, 6), bleibe dahingestellt. – In jedem Falle aber hat Klein mit seiner Untersuchung in exzellenter Weise dem Anspruch des Untertitels Rechnung getragen. Das lässt sich nicht von allen Beiträgen in diesem Buch sagen.
An erster Stelle des Sammelbandes steht der erste der beiden Aufsätze des Herausgebers, »Der Königin Nachtlied: Eine Adaption der Sage von Dido und Aeneas (Anth. Lat. 71 Sh.B) « (9-24). Schmitzer greift ein Gedicht eines Anonymus (10) aus konstantinischer Zeit (23) heraus, das mit dem Rückgriff auf den römischen »Proto-Herrscher Aeneas« (23) einen sehr weiten Bogen schlägt, dabei aber Aeneas durchaus kritisch sieht: Sein Verhalten entspreche nicht mehr den Kriterien kaiserlicher Selbstdarstellung der Spätantike (23f.). In der Spätantike, so der Verf., werde »die römische zur lateinischen Literatur« (24): Nicht mehr Rom als das »urbane Zentrum, sondern Sprache und gemeinsame literarische Tradition« (24) seien das einigende Band. Auch dieser Beitrag, in dem sich alle wichtigen Verse in deutscher Übersetzung finden, setzt sich intensiv und überzeugend mit der paganen Kultur des lateinischen Westens im 4. Jh. n.Chr. auseinander.
Ein etwas anderes Verständnis von Aeneas geht aus der dem Aufsatz R. Kleins folgenden Untersuchung von Petra Fleischmann hervor: »Die praefatio zum Aeneiskommentar des Servius und die Tradition der Auslegung« (59–114) – ein Beitrag, der mit gewisser Logik eher an den ersten denn an den zweiten Aufsatz anknüpft. Servius, ein lateinischer Grammatiker, lebte um 400 n.Chr.; sein hohes Ansehen geht schon daraus hervor, dass er bei Macrobius auftritt. Als bedeutendstes Werk ist sein Vergilkommentar als älteste vollständig erhaltene Auslegung zu einem lateinischen Autor (62) erhalten. Man weiß, dass er Symmachus, damit also einem Vertreter der paganen Seite, nahestand. Die Verf. präsentiert ausführlich das Programm eines Kommentars nach den Vorstellungen des Grammatikers (63–110), wobei der Kommentar als Medium im Schulunterricht angehender Redner galt (111f.). Die Konsequenzen: Gemäß Servius’ wollte Vergil Homer imitieren und Augustus loben. Servius zeichne, so die Verf. (114), ein positives Aeneas-Bild, und zwar vor dem Hintergrund, noch einmal pagane Werte von christlichen abzugrenzen. Damit stellt die Autorin einen ausgezeichneten Bezug zur paganen Kultur des lateinischen Westens im gegebenen zeitlichen Rahmen her mit klarer inhaltlicher Verknüpfung zum ersten Beitrag des Buches. Von daher ist die Reihenfolge dieser ersten drei Aufsätze nicht recht verständlich. Bedauerlich für alle Leser, die sich für die Zeit und das Thema interessieren, aber nicht aus der Klassischen Philologie heraus kommen, dass die Verf. die Fülle der lateinischen Zitate nicht ins Deutsche übertragen hat.
Der einzige Buchbeitrag, der nicht aus dem Bereich der Philologie kommt, wurde von Peter Kranz verfasst: »Vom Kunstwert der Götzenbilder – Idealplastik in der Spätantike« (115–166). Hierhin gehören auch alle 38 Abbildungen, die freilich in einem derart groben Raster erscheinen, dass sich bei Abb. 13 (S. 153) die Körperkonturen in Klötzchen auflösen, während die Tondobüste Abb. 4 (S. 148) so von hinten beleuchtet ist, dass von den Konturen des Gesichts kaum etwas zu erkennen ist. Hier wären mit einfachen Mitteln moderner Bildbearbeitung erhebliche Verbesserungen möglich gewesen. – Der Einstieg in diese gelehrte Arbeit – als einzige in diesem Buch führt sie ein eigenes Literaturverzeichnis am Schluss – ist schwierig. Es geht um eine Gruppe von Statuen, die man im späten 19. Jh. in Rom auf dem Esquilin geborgen und 1894 in die Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen eingegliedert hat (120). Über knapp zwanzig Seiten kann der Leser praktisch nicht erkennen, welche Position zur Datierung der Verf. bezieht: Handelt es sich bei dieser Gruppe sowie ähnlichen Werken der Plastik um Arbeiten der mittleren römischen Kaiserzeit, oder sind diese Skulpturen vielleicht doch Zeugnisse spätantiker Idealplastik? Der Verdacht (120) wird nach langen Seiten zur Gewissheit (134): Es gab neu geschaffene großformatige Idealplastik auch in der Spätantike, entstanden in bewusster Auseinandersetzung mit Werken der mittleren römischen Kaiserzeit. Man wusste zwischen Werken verdammenswerter heidnischer Thematik und dem Kunstwert an sich zu unterscheiden (136f. mit Verweis auf Eusebius und Gregor von Nazianz; zu Gregor nochmals S. 139). Man setzte sich durch die Pflege alter gleich paganer Werte gegen das Barbaricum ab (138f.). So wertet der Verf. jetzt die Esquilin-Gruppe als Zeugnis spätantiker Idealplastik, das heidnische Vorbilder nachahmt bei gleichzeitiger Neuinterpretation (140) – eine ganz sicher sehr ansprechende und auch gut belegte These zur Kultur des 4. Jahrhunderts, die aber wesentlich früher hätte formuliert werden sollen.
Der Herausgeber Ulrich Schmitzer rückt nochmals einen Beitrag ein: »Amor in der Unterwelt. Zu Ausonius’ Gedicht Cupido Cruciatus« (167–184). Allein schon über den Dichter Ausonius werden die Bezüge zum zeitlichen Rahmen des Buches wie auch zur paganen Kultur hergestellt. Die glänzend und amüsant geschriebene philologische Untersuchung des Gedichtes (mit Beigabe deutscher Übersetzungen) schließt grundsätzliche Fragen mit ein: Können in der Blütezeit spätantiker Literatur – also etwa die Zeit um 350 – 430 n.Chr. (169 mit Anm. 11) – pagane und christliche Werte nebeneinander bestehen? Paulinus von Nola, Neffe des Ausonius, habe das für sich verneint (169). Die Quintessenz dieses Aufsatzes ist nicht ganz unerwartet: Das Christentum des 4. Jahrhunderts konnte traditionelle Bildungsgüter durchaus übernehmen, freilich nicht, wie bereits erwähnt, als Glaubensinhalt, sehr wohl aber als Objekt geistiger Auseinandersetzung, z.B. in der Literatur (184). Ergänzend sei hinzugefügt, dass sich die vom Verf. kon¬statierte Trennung zwischen paganen und christlichen Inhalten keineswegs immer so präsentierte: Die Spätantike kannte ausgiebige Formen des Synkretismus (Peter Dinzelbacher – Werner Heinz, Europa in der Spätantike 300–600, Darmstadt 2007, 61–63).
Es folgen zwei Beiträge zu Ausonius: Walter Kißel, »Sortieren von Trümmern. Zur Rekonstruktion von Ausonius, prof. 6« (185–200) und Christoph Schubert, »Weiteres zur Versfolge von Ausonius prof. 6« (201–213). Es geht um die textkritische Untersuchung eines Gedichtes, dessen Versfolge anscheinend restlos durcheinander geschüttelt war. Die ausgezeichnete Erkenntnis, dass die Abschreiber den Text in Kolumnen und über mehrere Seiten verteilt vorfanden, ermöglichte das Sortieren von »Blöcken«; damit erstand eine ganz neue Rekonstruktion. – Beide Arbeiten sind als philologische Beiträge von großem Interesse. Es gibt jedoch keinerlei Einordnung in einen allgemeinen Kontext, nicht den geringsten Blick auf das historische oder geistesgeschichtliche Umfeld. Es geht um philologische Methodik, die sich – sagen wir: eher zufällig – am Beispiel des Ausonius exemplifiziert. Diese beiden gelehrten Aufsätze sagen nun wirklich nichts zur Kultur der Spätantike. Somit wären sie in einer Zeitschrift gut aufgehoben; in diesem Buch aber haben sie nichts verloren.
Ähnliches gilt für den folgenden Beitrag von Severin Koster, »Der Alte von Verona (Claud. carm. min. 20) « (215–227). Über den Dichter Claudian, der in den Jahren 396 bis 404 Gedichte auf Honorius schrieb, sind wir in der Spätantike verankert. Doch diese Informationen muss sich der Leser – wenn er sie nicht im Kopf hat – aus dem Lexikon besorgen. Verf. schreibt eine für sich genommen sehr ansprechende Gedichtinterpretation und baut den Gegensatz Sesshaftigkeit (eben der Alte von Verona) und Reisen auf. Es fehlt aber auch hier restlos die Einbindung in die Zeit- und die Kulturgeschichte.
Mit Claudian befasst sich auch der Beitrag von Thomas Kellner, »Das dialektische Bildungsverständnis des Staatsdichters Claudian: Humanistische Kulturpädagogik als politischer und ontologischer Appell« (229–247). Nach einer einleitenden Untersuchung und der Interpretation des Gedichtes De raptu Proserpinae stellt der Verf. das Werk im Rahmen der höheren Schulbildung (243) als pädagogisches Programm, dann aber auch im Zusammenhang der bereits angesprochenen letzten Blütezeit der lateinischen Literatur in der Spätantike und der sich allmählich christlich umdeutenden heidnischen Romidee (242) vor.
Der letzte kurze Beitrag von Wolfgang Srb, »Textkritisches zu Eutrop 1,20,3–4« (249–252) ist wiederum nur über den Namen Eutrop (Geschichtsschreiber unter Valens [364–378]) und sein Breviarium mit der Spätantike verbunden. Auch in diesem Fall geht es um eine rein philologische Arbeit, in der das kulturelle Umfeld der Spätantike mit keinem einzigen Wort erwähnt wird. Wer nicht weiß, wo Eutrop überhaupt anzusiedeln ist, erfährt es hier auch nicht.
Insgesamt bleiben dem Leser einige Enttäuschungen nicht erspart. Er findet ein Buch vor mit einer Fülle von einzelnen Beiträgen, deren jeder sehr wertvoll ist, von denen aber im hinteren Teil mehrere Aufsätze das wesentliche Thema der Untersuchungen zur paganen Kultur im 4. Jh. verfehlen, da sie dazu nichts aussagen. Der Herausgeber hat einen großen Kessel Buntes bereit gestellt, in den jeder der Fachkollegen noch etwas hineinlegen durfte. Auch weitere Einzelheiten erscheinen unüberlegt. Lassen wir einmal die alte Rechtschreibung, die im Publikationsjahr 2006 eigentlich nicht mehr zu erwarten ist, beiseite (die Beiträge lagen Ende 2001 vor), so muss doch die Uneinheitlichkeit im Untertitel zu denken geben. Der insgesamt maßgebliche Binnentitel verzeichnet »Beiträge zur paganen Kultur ...«, wogegen auf dem Umschlag »Studien zur paganen Kultur ...« zu lesen ist. Das Inhaltsverzeichnis fasst die getrennten Beiträge von Kißel und Schubert unter einem so im Buch nicht existierenden Titel zusammen. Ganz unglücklich: Es fehlt jegliches Register.
Das Anliegen des Buches ist wunderbar. Unter den gegebenen Voraussetzungen kann es allerdings im wesentlichen nur in der Klassischen Philologie reüssieren, da den Kollegen der »Nachbargebiete« anders, als im Reihentitel verlangt, der Zugang vernagelt wird.
Werner Heinz