Rezension
Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Band 83 (2011)
»Was zählt schon ein Feldfrevel gegenüber einem Mord, was eine Geldstrafe gegenüber einer Hinrichtung?« (S.9). Mit dieser Fragestellung eröffnet Heike Bilgenroth-Barke ihre Studie zum Duderstädter Strafbuch, die als Band 8 der von Peter Aufgebauer herausgegebenen »Göttinger Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters« erschienen ist. Die Untersuchung des Duderstädter Strafbuches erfolgt dabei in Form einer klassischen Annäherung an den eigentlichen Gegenstand. Nach einer obligatorischen Erörterung des Forschungsstandes und einer kurzen Einführung in das Duderstädter Gerichtswesen zwischen 1450 und 1550 nähert sich Bilgenroth-Barke allmählich dem »Hauptzeugen« der Untersuchung mit einer Beschreibung und Einordnung des Strafbuches, bevor sie sich einzelnen Themenbereichen und ihren Verknüpfungen widmet.
Hier zeigt sich die ganze Bandbreite der Erkenntnismöglichkeiten, die eine solche Quelle des Überrests städtischer Administration demjenigen offeriert, der durch geschickte Querverknüpfung — etwa mit den überlieferten Rechtsnormen und Statuten —den Quellen, im besten Sinne der Forderung Ahasvers von Brandt, »ein möglichst hohes Maß an Wahrheit abzugewinnen vermag«. So findet denn nahezu das gesamte Spektrum der Alltagskultur und der gesellschaftlichen Konfliktlinien seinen Spiegel innerhalb des Strafbuches, womit ein plastischer Eindruck der Lebensrealität in einer norddeutschen Stadt an der Wende zur Frühen Neuzeit zu entstehen vermag. Hierzu gehören Fragen des Hausfriedens, Delikte innerhalb der familiären Strukturen, verschiedene Wirtschaftsdelikte, Holz- und Wilddiebstähle ebenso wie Vergehen, die anlässlich unterschiedlicher gesellschaftlicher Ereignisse zu verzeichnen waren — wozu etwa die Verstöße gegen Spielverbote zu zählen sind.
Mag das Strafbuch für sich allein betrachtet bereits eine interessante Quelle mit dem Verweis auf- vielfältige Einzelereignisse sein, so erweist sich sein übergeordneter Wert hier doch vor allem in der methodisch gelungenen Auswertung. Die von der Autorin vorgelegte Untersuchung folgt dabei weder dem seit einigen Jahren zu verzeichnenden Trend der Anfertigung reiner Pitavale, in Form der wissenschaftlich nahezu unbegleiteten Extraktion besonders eingängiger Straftatbestände, noch jener speziell in den Forschungsgegenständen der Frühen Neuzeit verbreiteten und der modernen Sozialwissenschaft entlehnten Methodik quantitativ-statistischer Auswertung mit geringer Berücksichtigung der Überlieferungsproblematik. Anstelle dessen folgt Heike Bilgenroth-Barke nach eigenem Bekunden und unter Berufung auf Peter Schubert dem Grundsatz, die Einzelquelle behutsam zu »wägen« und nicht zu »zählen« (S.18). Von dieser Methode der individuellen Auswertung der einzelnen Passagen des Strafbuches unter Einbeziehung der jeweiligen Umstände und Randbedingungen vermag die Studie zu profitieren, wobei vor allem deutlich wird, dass zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit erhebliche Diskrepanzen zutage treten.
Wenngleich es sich also bei der vorliegenden Studie nur um eine lokal und zeitlich eng begrenzte Untersuchung handelt, so kann sie doch einen gelungenen Beitrag nicht nur zur Straf-, sondern vor allem zur Alltagsgeschichte der beginnenden Frühen Neuzeit bieten, insbesondere dort, wo sie mit anderen, vergleichbaren Untersuchungen abgeglichen und zusammengeführt wird. In diesem Sinne beantwortet die Autorin ihre Eingangsfrage nach der Bedeutung der vermeintlich »kleineren Vergehen« selbst, wenn sie als Begründung für eine wissenschaftliche Hinwendung angibt: »Diese alltäglichen Delikte spiegeln [...] die Normalität in ungleich größerem Maße wider als die Verbrechen, die unter die Hals- und Blutgerichtsbarkeit fielen [...]« (S. 9).
Mark Feuerle