Rezension
Fachbuchjournal Juli 2011
Das Buch gibt die Vorträge wieder, die in einer Ringvorlesung an der FU Berlin im Wintersemester 2007/2008 gehalten wurden; dementsprechend stammen die Texte mit der gewichtigen Ausnahme von Joachim Gauck von Universitätsprofessoren, zumeist an Berliner Universitäten. Aus den verschiedensten Blickwinkeln wird über die »großen Worte« des Titels nachgedacht, wobei der einleitende Text von Gauck wieder einmal zeigt, dass er für sein früheres Amt als erster Bundesbeauftragter für die MfS-Unterlagenbehörde die ideale Besetzung war: theologisch fundierte Nachdenklichkeit mit einem wachen Sinn für die praktische Umsetzung, ganz im Bewusstsein der Unvollkommenheit menschlicher Regelungen. Nicht, dass er sich in ein unverbindliches Einerseits-Andererseits flüchtete, sondern er wird uneingeschränkt eindeutig da, wo es am Platze ist. So benennt er im Gegenteil deutlich eine Grundvoraussetzung für jede Versöhnung: Versöhnung gibt es nur »gegen Wahrheit«, denn sie kann ja nicht auf Lüge aufbauen, und man muss wissen, mit wem man sich versöhnt und worüber man hinwegsehen will.
Das Buch besteht aus drei Teilen: lm ersten Teil werden gesellschaftliche und sozialethische Probleme abgehandelt, im zweiten theologische und juristische Perspektiven mit dem Beispiel Südafrika, im dritten einige Fallbeispiele mit der Entwicklung und gegenwärtigem Stand des Völkerstrafrechts, abermals Chile sowie dann Spanien, in welchen beiden Fällen aus Gründen des gesellschaftlichen Friedens auf eine rigorose Strafverfolgung verzichtet wurde, was durchaus unvollkommen vor sich ging und nicht abgeschlossen ist. Natürlich haben das Buch und die Vorlesungsreihe keinen Kompendiumcharakter weshalb auf sehr viele Beispiele verzichtet wurde. Es seien hier nur diejenigen benannt, die in dem vorzüglichen Sammelband von A. James MeAdarns' dargestellt werden: Griechenland, Bolivien, Argentinien, Chile, Ungarn, Polen, wiedervereinigtes Deutschland. Das Buch wird nur einmal erwähnt, was einerseits schade, andererseits wegen der Fülle der Literatur auch verständlich ist.
Eine Bemerkung zum insgesamt positiv urteilenden Beitrag zum Völkerstrafrecht. Es steht ja unter der selten ausgesprochenen Prämisse, dass es sich - anders als die deutschen Prozesse ab 1990 - um Siegerjustiz handelt, so viel materielle Gerechtigkeit glücklicherweise auch oft verwirklicht wurde - wer wollte sich gegen viele Todesurteile aussprechen, die in Nürnberg 1946 gefällt wurden? Schon der Versuch der Sieger des ersten Weltkrieges, nur das deutsche Staatsoberhaupt - den Kaiser - und deutsche Offiziere strafrechtlich zu belangen und niemanden von der Siegerseite, die ja wohl auch nicht mit einem Menschenrechtskodex »unter dem Arm« Krieg geführt hat, stellte eine krasse Ungerechtigkeit dar und verlief glücklicherweise im Sande, wobei sich die Niederlande hervorgetan hatten, die sich weigerten, den Kaiser auszuliefern. Und, um auf die Gegenwart Bezug zu nehmen, es ist wirklich die Frage, wie die Urteile im Haag über ihre gewiss gegebene Gerechtigkeit im jeweiligen Einzelfall hinaus zu werten sind, wenn man bedenkt, dass sie fast immer nur gegen Unterlegene des jeweiligen Konfliktes gesprochen wurden, während doch jeder Krieg auf diesem Erdball, deren es nicht wenige gegeben hat und noch gibt - man denke nur an Tschetschenien - zumindest eine Voruntersuchung wert sind. Aber, beispielsweise, der russische Ministerpräsident kann da ganz ruhig sein.
Das Buch gibt Veranlassung, über das Gebotene hinaus über vieles neu nachzudenken. Gauck und andere lehnen im Zusammenhang mit »Strafe«, natürlich, »Rache« ab. Jedoch zeigt die Geschichte, dass Rache in manchen Kulturen und Kulturabschnitten durchaus einen akzeptierten Wert darstellte. Zudem gibt es einen Strafbegriff, der nicht von vornherein mit Vergebung oder Besserung und sozialer Wiedereingliederung zu tun hat - die Verurteilten der meisten NS-Prozesse waren bestens eingegliedert -, sondern mit der Vorstellung, dass durch die Missetat etwas in Unordnung geraten sei, das durch die Strafe wieder ausgeglichen werden müsse. Ebenfalls wird gelegentlich von der Notwendigkeit gesprochen, die kommunistischen Verbrechen in Deutschland - keineswegs in Konkurrenz zu den nationalsozialistischen - stärker im allgemeinen Gedächtnis zu verankern; in letzter Zeit werden anscheinend Aktivitäten begonnen, die sich dafür auf breiterer Grundlage einsetzen, so die von Michel Beleites in Sachsen oder von Aleida Assmann bundesweit. Schließlich hat gerade in letzter Zeit ein Ereignis stattgefunden, durch welches das ganze Gewicht des Begriffs »Gerechtigkeit« besonders eindrucksvoll in die Öffentlichkeit getragen wurde. Obwohl die Tötung des Terroristen Bin Ladin nun wirklich ohne einen Hauch von rechtsstaatlichem Verfahren oder ähnlichem geschah, überzeugte das einfache Pathos, mit dem Präsident Obama vor die Öffentlichkeit trat und verkündete: »Justice has been done.« (ws)
1 Justice and the Rule of Law in New Democracies, Notre Dame und London 1997.