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Rezension

Theologische Revue 4/2011

Die Arbeit ist eine von Prof. Ingolf Dalferth (Zürich) betreute evangelisch-theologische Diss. Es fällt auf, dass Rebekka Klein die experimentelle Ökonomik in die Interdisziplinarität ihrer Untersuchung einbezieht. Dem Vorwort ist zu entnehmen, dass sie sich am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Zürcher Univ. intensiv über den Forschungsschwerpunkt »Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens: Altruismus und Egoismus« informieren konnte. Dadurch erhält die Arbeit einen besonders interessanten Akzent.
Nach der Einleitung in Thema und Methode ist das Buch in vier Teile gegliedert. Der erste beleuchtet zunächst das Humanitätsverständnis aus der anthropologischen Sicht der genannten Disziplinen. Anschließend skizziert K. einschlägige philosophisch-anthropologische Differenzierungen. Sie weist am Beispiel der Seinsfrage Martin Heideggers, der Auflösung des Tier-Konstrukts bei Giorgio Agamben und der Denunziation des Unmenschlichen bei Theodor Adorno Leitdifferenzen auf. Bzgl. der conditio humana bezieht sie sich auf deren Problematisierung bei Roland Barthes und deren Entfaltung bei Hannah Arendt. Eingehender befasst sie sich dann mit zentralen Themen der Anthropologie Helmuth Plessners. Abschließend wird das hermeneutische Problem der »Gegenständlichkeit des Gegenstands« Mensch zwischen wissenschaftlich-methodischem Zugriff und verstehender Bezugnahme kurz beleuchtet, was zum zweiten Teil überleitet.
Hier geht es um Sozialität aus experimentell-ökonomischer Sicht. Gegen das alte Paradigma des egoistisch-rationalen homo oeconomicus wird empirisch zu zeigen versucht, dass dem Menschen ein natürliches altruistisches und pro-soziales Verhalten eignet, das ihn (etwa als »starke Reziprozität«) von anderen Animalien unterscheidet. Die transdisziplinäre Forschung arbeitet sozialwissenschaftlich mit spieltheoretisch modellierten Experimenten, die neurowissenschaftlich in bildgebenden Verfahren fundiert und evolutionstheoretisch erörtert werden. Letztlich geht es um den naturalistischen Aufweis eines biologischen Altruismus des Menschen. K. führt höchst informativ in Forschungspraxis und Spielexperimente ein und unterzieht diese Sicht der Sozialität einer ebenso differenzierten wie plausiblen Kritik. So blendet etwa die experimentelle Ökonomik die hermeneutische Differenz zwischen Interaktionen in der Lebenswelt und am Computerbildschirm aus, während die Modellierung der Experimente lebensweltliche Vorverständnisse voraussetzt; die Naturalisierung der Interaktionen im Experiment verdeckt die Vielfalt der möglichen Motivationen, was sich besonders in der vorausgesetzten Dominanz der nutzenorientierten payoff-Struktur zeigt; in der als prosozial interpretierten Normorientierung bleibt die Frage der Legitimation der Norm offen.
Der dritte, sozialphilosophische Teil ist in die Aspekte Antagonismus, Anerkennung und Verantwortung gegliedert. Der Antagonismusaspekt wird durch die Anthropologie des Thomas Hobbes belegt und durch die Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe aktualisiert. Bzgl. der Anerkennung wird zwischen einer posthegelianischen und einer hermeneutischen Tendenz unterschieden. Die erste, der K. Axel Honneth und Charles Taylor zuordnet, fokussiert im Anschluss an den frühen Hegel die Anerkennung auf die Selbstidentität des Subjekts. Die Anerkennung durch den anderen »restauriert« das Selbstverhältnis und verdeckt so die Differenz beider. Die zweite Tendenz, die Paul Ricoeur vertritt, nimmt die Differenz, Asymmetrie und Andersheit ernst und transzendiert als wechselseitige symbolische Anerkennung die eigene Subjektivität, etwa in der zum ökonomischen Tausch kontrastierenden Trias von Geben, Empfangen und erneutem Geben. Damit ergibt sich der Übergang zu jenem Verantwortungsaspekt, der die Neukonzeption von Humanität und Inhumanität bei Emmanuel Levines eröffnet. Die Differenz des einen zum andern bewirkt eine Transzendenz, Entzogenheit und Unverfügbarkeit des andern (»Antlitz«), die ethisch in die Verantwortung ruft und Humanität begründet, aber auch zu Verfeindung und Inhumanität führen kann
Der religionsphilosophische Aspekt bei Levinas, wonach Gott als »Nähe in der zwischenmenschlichen Begegnung« die der Andersheit des Anderen vor-gängige Andersheit ist, leitet über zum vierten, dem christlich-theologischen Teil. Die in Jesus Christus menschlich gewordene Gegenwart, Nähe und Zuwendung Gottes bringt als ein Drittes in das Zwischenmenschliche die Perspektive einer Neubestimmung, die als Spannung zwischen alter und neuer Existenz, sozialer Inhumanität und Humanität, erfahrbar wird. Voraussetzung dafür ist die gläubige Revision der Immanenz jenes Erfahrungshorizonts, auf den sich nicht theologische Theorien beschränken. Dadurch erscheint der Mensch zunächst als ein »Nächster Gottes« und kann darum auch zum Nächsten des Mitmenschen werden. Erst durch die Liebe Gottes zum Menschen gewinnt Nächstenliebe ihre eigentliche christliche Bedeutung In der differenzierten Entfaltung der Bedeutungsaspekte christlicher Nächstenliebe bezieht sich K. nach einer Analyse des biblischen Befundes besonders auf Sören Kierkegaard.
Kritisch ist zu fragen, warum K. den Begriff der Sozialität so stark auf die Ich-Du-Beziehung einengt. Conditio humana ist Sozialität doch auch in der Form von Institutionen, sozialen Strukturen und teilsystemischen Ausdifferenzierungen. Gegenüber den je besonderen Ich-Du-Beziehungen kommt diesen Ausprägungen der Sozialität eine eigene Qualität zu, die sich nicht hinreichend als Akkumulation der ersteren begreifen lässt. Das zeigt sich auch bzgl. der Inhumanität, die nicht nur konkrete Verweigerung individueller Anerkennung, Verantwortung oder Nächstenliebe ist, sondern auch »Struktur der Sünde«, soziale Ungerechtigkeit und teilsystemische Fehlentwicklung. Christlich-sozialethisch wäre zu fragen, was Nächstenliebe im spezifisch politischen, wirtschaftlichen, juristischen, wissenschaftlichen etc. Handeln bedeutet. Diese Frage, die über die individualethische Sicht der Ich-Du-Beziehungen hinausweist, hätte etwas mehr Berücksichtigung verdient. Die Stärke des Buches liegt in K.s Fähigkeit, Positionen prägnant und griffig darzustellen, sie umsichtig und klar kritisch zu beurteilen und Zusammenhänge systematisch gediegen aufzuweisen. Auf der Basis einer enormen Literatur führt die Arbeit in einem eindrucksvollen Bogen von den Naturalismen der experimentellen Ökonomik zur Bedeutungsfülle christlicher Nächstenliebe. Dabei ist das Werk vorzüglich lesbar, höchst informativ und zumeist ausgesprochen spannend.
Arno Anzenbacher

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Sozialität als Conditio Humana

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Sozialität als Conditio Humana

Eine interdisziplinäre Untersuchung zur Sozialanthropologie in der experimentellen Ökonomik, Sozialphilosophie und Theologie
Klein, Rebekka A.

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