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Rezension

Osnabrücker Mitteilungen, Bd. 115 (2010)

Zum Abschied nach 35-jährigem Dienst als Leiterin des Stadtarchivs Lüneburg wurde Uta Reinhardt eine Festschrift überreicht, die ihr Mitarbeiter am Stadtarchiv Danny Borchert und der Leiter des Salzmuseums Christian Lamschus für sie zusammengestellt haben. Das Buch erscheint als 20. Band der von Uta Reinhardt zusammen mit Christian Lamschus im Auftrag des Förderkreises Industriedenkmal Saline Lüneburg herausgegebenen Schriftenreihe  »De Sulte«. Nach zwei freundlichen und informativen biographischen Beiträgen über die Jubilarin — ihr Weg von Bietigheim nach Lüneburg wird von dem Marburger Historiker und Personal­schriftenforscher Rudolf Lenz, ihre Vita im Dienst der Stadt Lüneburg von dem Lüneburger Archivar Danny Borchert nachgezeichnet — und der beeindruckenden Liste der Publikationen von Dr. Uta Reinhardt enthält die Festschrift dreizehn Beiträge namhafter Kolleginnen und Kollegen aus Archiven, Universitäten und Museum. Diese beleuchten besondere Aspekte aus der Geschichte der norddeutschen Städte Braunschweig, Göttingen, Hamburg-Wilhelmsburg, Hannover, Hildesheim, Lübeck, Oldenburg, Osnabrück, Stade und Uelzen.
Am Beispiel Stades behandelt Jürgen BOHMBACH unter dem Thema  »Erziehung zu lebens­frohen Menschen« die Entwicklung der Kindergärten und Kinderheime samt den dahinter­stehenden Ideologien von der Warteschule des 19. Jahrhunderts über die Hilfsschulen oder Volkskindergärten der NS-Zeit und den Nachkriegs-Kinderheimen bis zur modernen Tages­stätte Mitte der 1970er Jahre. Manfred GARZMANN widmet der Jubilarin eine biografische Skizze über den Braunschweiger Oberbürgermeister Otto Bennemann, der als SPD-Politiker nach dem Exil dieses hohe Amt in den schwierigen Nachkriegsjahren 1948-1952 und 1954­-1959 bekleidete und wesentlich zum raschen Wiederaufbau seiner Heimatstadt beitrug.  »Ka­nalbaudiplomatie«, mit diesem Schlagwort benennt Antjekathrin GRABMANN die Ideen des Lübecker Oberbaudirektors Peter Rehder und zeichnet sein umsichtig-diplomatisches Vor­gehen bei verschiedenen Nord-Süd-Kanal-Planungen im ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts nach, die alle dazu dienen sollten, Lübeck die hervorragende Stellung unter den deutschen Seehandelsplätzen zu erhalten, die der alten Hansestadt nach ihrem Selbstverständnis zukam.
Unter dem Titel  »Zum Verlust der Mitte Hannovers« zeigt Karljosef KRETER die Entwicklung der vormals klassizistischen welfischen Residenzstadt auf, deren Raumaufteilung im 19. Jahrhundert durch Georg Friedrich Ludwig Laves noch planvoll modernisiert worden war,. die dann erste Straßendurchbrüche durch die Altstadt, die Planung großer Achsen für die Gau­hauptstadt der NS-Zeit und eine 90-prozentige Zerstörung im Luftkrieg erleben musste; der verkehrsgerechte moderne Wiederaufbau ließ eine neue Landeshauptstadt Hannover ent­stehen, der die Mitte, das Herz der alten Bürgerstadt, verlorengegangen war.  »In Anbetracht der besonderen Verhältnisse der Stadt Göttingen ... « stellt Helga-Maria KÜHN die Probleme mit Flüchtlingen und Jugendverwahrlosung 1945-1948 im »Dreiländereck« zwischen der britischen, amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone dar; hier wurde die äußerlich intakte, weil nahezu unzerstörte Stadt vor unlösbare Probleme gestellt, bei denen die Göttinger Bürger nach für ihre Stadt glimpflich verlaufenen Kriegsjahren nachträglich sehr spürbar unter Konsequenzen von 12 Jahren NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatten.
Die Lüneburger Gärtnerfamilie Wrede bietet Christian LAMSCHUS das Beispiel, unter dem Titel  »Wir haben heute einen Preis für unsere Stiefmütterchen bekommen« anhand eines lückenlos erhaltenen Familienarchivs den erfolgreichen Weg dieser Handwerkerfamilie von der Gründung einer »Kunst- und Handelsgärtnerei« im Jahr 1830 durch die schwierige Zeit der Industrialisierung bis heute aufzuzeigen; während andere Handwerker verarmten und zu Industriearbeitern wurden, gelingt den Wredes als selbständigen Handwerksmeistern mit erworbenem eigenen Grundbesitz der soziale Aufstieg in die bürgerliche Gesellschaft. Werner H. PREUSS weist an zahlreichen Lüneburger Bauten das große Verdienst des Architekten Franz Krüger (1873-1936) Titel  »Für eine Backsteinsteinstadt ohne aufgeklebten Schmuck« nach; zeit­lebens habe Krüger versucht, in seinen Neubauten alte Elemente oder Formen mit dem mo­dernen Bauen zu vereinen, und so als Denkmalschützer wie als Architekt zum Wohle des Lüneburger Stadtbildes beigetragen.
In touristischen Stadtführern stellt Hildesheim sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Zerstörung der Innenstadt im März 1945 mit Stolz auf die zahlreichen und prächtigen Fachwerkbauten als das »Nürnberg des Nordens« dar; Herbert REYER untersucht den Weg der nach der Säkularisation um ihre Mittelpunktfunktion gebrachten und verarmten Landstadt sowie die erfolgreichen kommunalen Bemühungen um eine Besserung des Selbsthildes der Stadt und Hebung des Bewusstseins für die Bewahrung der Bausubstanz, die letztlich zum Imagewandel Hildesheims führten. Der heutige Stadtteil Wilhelmsburg bildete nach seiner Herauslösung aus dem Landkreis Harburg nach dem 1. September 1925 kurzzeitig eine eigene Stadtgemeinde, die zum 1. Juli 1927 mit der Stadt Harburg zur neuen Großstadt Harburg-Wilhelmsburg vereinigt wurde und am 1. April 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz in die Stadt Hamburg eingegliedert wurde; die »Probleme der kurzlebigen Stadt Wilhelmsburg (Elbe)« erläutert Klaus RICHTER eingehend und anschaulich. Der Bremer Handwerker und spätere Architekt Boy Paysen hinterließ Skizzenbücher, in denen auch Lüneburg-Skizzen aus den Jahren 1907-1908 enthalten sind; diese neu zugänglich gewordenen Zeichnungen stellt Herbert SCHWARZWÄLDER vor.
Henning STEINFÜHRER bietet eine Darstellung von Planungen und Anforderungsprofil des ersten Braunschweiger Archivzweckbaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das 1910 bezogen werden konnte und bis 1985 das Stadtarchiv beherbergte. Die Stadtentwicklung in der Wei­marer Republik im westlichen Niedersachsen vergleicht Gerd STEINWASCHER am Beispiel der beiden »kleinen Großstädte« Oldenburg und Osnabrück; während beide Städte zuvor in ihrer historischen Entwicklung kaum Berührungspunkte aufweisen, stehen sie nach der Revolution von 1918 als Oberzentren in der neu entstandenen Weser-Ems-Region durchaus im Wett­bewerb und meistern unterschiedlich, aber gut vergleichbar die neuen Herausforderungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. In bemerkenswerter Kontinuität war Johann Farina von 1913 bis 1946 fast 33 Jahre lang Bürgermeister der Stadt Uelzen; Thomas VOGTHERR skiz­ziert die Amtsführung dieses Uelzener Bürgermeisters über die Zeitenwenden des Wilhelmi­nischen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus und der ersten Monate britischer Besatzungsherrschaft hinweg und beleuchtet kritisch sein Amtsverständnis, das in der Wiedereinsetzung des über Siebzigjährigen 1945 durch die britischen Besatzungs­offiziere eine Bestätigung erfährt.
Die vorliegende Festschrift vereint sehr ansprechende und informative Aufsätze zum nord­deutschen Städtewesen und stellt damit eine angemessene und würdige Ehrung der verdienten Stadtarchivarin dar.

Thomas Gießmann

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: »Der Stadt zur Zierde ...«

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»Der Stadt zur Zierde ...«

Beiträge zum norddeutschen Städtewesen im 19. und 20. Jahrhundert
Borchert, Danny/Lamschus, Christian/Bohmbach, Jürgen/Garzmann, Manfred/Graßmann, Antjekathrin/Kreter, Karljosef/Kühn, Helga-Maria/Lenz, Rudolf/Preuß, Werner H./Reyer, Herbert/Richter, Klaus/Schwarzwälder, Herbert/Steinführer, Henning/Steinwascher, Gerd/Vogtherr, Thomas

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