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Rezension

Gnomon 2010

Die institutionellen Mechanismen der römischen Republik gehören seit jeher zu den Problembereichen, denen sich die althistorische Forschung besonders inten­siv widmet. Dabei stand in den zurücklie­genden Jahrzehnten allerdings eher die Frage im Zentrum des Interesses, wie der politische Grundcharakter des politischen Regelwerks, auf dem die Republik basierte, zu bewerten ist und welchen Einfluß kommunikative Prozesse und ritualisierte Handlungsstrukturen auf den Ablauf gesellschaftlicher Willensbildung besaßen. Eine Entwicklungsanalyse der politischen Institutionen, die weit in die römische Frühzeit zurückreicht, wurde hingegen kaum mehr unternommen. Die großen Schwierigkeiten und inneren Widersprü­che, auf die die älteren Entwicklungsmo­delle immer wieder stießen, hatten diesen Strang historischer Rekonstruktion unatt­raktiv erscheinen lassen. Mit dieser Abkehr von der Beleuchtung der institutionellen Evolution der frühen Republik war aber auch das Risiko verbunden, daß wertvolle Informationen aus den antiken Quellen, die nicht fälschungsverdächtig sind, aus dem Blickfeld der Forschung verschwinden und damit ein wichtiger Bestandteil für die Einschätzung des politischen Lebens in der römischen Gesellschaft und seiner evoluti­onären Dynamik unbeachtet bleibt.
Entgegen dieser Forschungstendenz un­ternimmt Markus Rieger einen neuen Versuch, unsere Informationsbasis für eine wesentliche Komponente der politischen Kultur in der Frühzeit zusammenzufassen und daraus Rückschlüsse für die institutio­nelle Entwicklung der Republik zu ziehen. Als Schwerpunkt hat er sich die römischen Land- und Wahlbezirke gewählt, die bis zum Ende der Republik eine wichtige Rolle im politischen Leben Roms spielten. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung bis in die Mitte des 5. Jh. v. Chr. sollen geklärt werden. Auf eine Einleitung zur Quellen­lage und zum Forschungsstand (1-23) folgt als erster Hauptabschnitt eine allgemeine Übersicht zur Entwicklung der römischen Siedlung von den Anfängen bis zur Aus­prägung urbaner Strukturen unter den etruskischen Königen (24-82). Dann werden in drei ausführlichen Kapiteln die unterschiedlichen Kategorien der römi­schen Tribus vorgestellt: die drei ursprüng­lichen alten Tribus (83-277), die vier städti­schen Tribus (278-344) und die siebzehn alten Landtribus (345-613). Das abschließende Hauptkapitel des Buches widmet sich der umstrittenen Frage nach der genauen Lokalisierung dieser regionalen Einheiten. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse (614-626), ein ausführliches Literaturverzeichnis (627-653) und um­fangreiche Indices (654-730) bilden den Abschluß des Werkes.
Als methodischen Kern der Untersu­chung benennt der Autor gleich zu Beginn einen komparatistischen Ansatz (16), der es ermöglichen soll, die problematischen und unsicheren Aspekte in der historischen Überlieferung durch einen strukturellen Vergleich mit anderen zeitgenössischen Gesellschaften, vor allem den Griechen, Kelten, Etruskern und Italikern angemes­sen in eine plausible Rekonstruktion einzu­fügen. Eine diachrone Komparatistik auf der Basis der Forschungsergebnisse der modernen Ethnologie lehnt Rieger hinge­gen strikt ab. Unter Berücksichtigung des besonderen Charakters der römischen tribus sieht er darin einen «Irrweg» (17).
Kernresultat des Buches ist die These, daß die tribus eine organisatorische Beglei­terscheinung gesellschaftlicher Innovationsschübe seit dem ausgehenden 7. Jh. v. Chr. waren. Hintergrund für deren Ein­führung seien die Anforderungen der Entwicklung des urbanen Zentrums und vor allem die Notwendigkeiten einer effi­zienten militärischen Organisationsstruk­tur gewesen, die die zum Heeresdienst verpflichteten Bevölkerungsteile möglichst umfassend und zielgerichtet ordnete. Dies hat aus der Sicht des Autors aber nicht nur für die tribus gegolten, sondern auch für die gentes, deren Aufkommen in seiner Einschätzung ebenso der Entstehung urba­ner Strukturen nachgelagert war. Aufbau­end auf einer weitgehend fiktiven Ver­wandtschaftskonstruktion bildeten die gentes und die tribus Bestandteile einer umfassend geplanten Organisationsstruk­tur. Insgesamt ergibt sich der Entwurf eines rationalen Gesellschaftsentwurfs, der zur Grundlage des römischen Erfolges wurde.
Bei der Suche nach den Ursprüngen die­ser sinnvoll geplanten Organisationsstruk­tur schließt Rieger einen indoeuropäischen und einen italischen Hintergrund aus, nachdem er schon aufgrund der Singulari­tät der römischen tribus die ethnologische Vergleichsebene und deren Überlegungen zu inhärenten Zwänge der Organisation menschlicher Gesellschaften ausgeschlos­sen hat. Am Ende bleibt der Verweis auf die politische Kultur Griechenlands. Die Lösung sieht er daher in der direkten Übernahme griechischer Institutionen, mit denen die Römer über Vermittlung der Etrusker vertraut wurden. Resümierend kann die Sicht des Buches dahingehend zusammengefaßt werden, daß Rom sich früh zu einer griechischen Polis entwickelt hat und nach deren Maßstäben beurteilt werden kann.
Auf der Basis dieser inhaltlichen Aus­richtung erhält der Leser ein Buch, das in einem erstaunlichen Maße die überlieferten Details zu der Entwicklung der räumlichen und sozialen Organisation der frührömi­schen Gesellschaft aufgearbeitet hat. Die Materialfülle, die der Autor verarbeitet, ist in jedem Fall beeindruckend und zeugt von einer jahrelangen intensiven Beschäftigung mit der Thematik. Dies verdient zwei­felsohne Anerkennung, da der Suchende in dem Band eine Vielzahl von Aspekten zu der frührömischen Organisation finden wird, die der Autor in der Regel sehr um­sichtig recherchiert hat. Der Nutzen des Buches für ausgewiesene Spezialisten, die zu Einzelheiten der frührömischen Ord­nung recherchieren, ist unbestreitbar.
Doch allein der immense Umfang des Bandes erweist sich schon als Problem. Selbst den geneigten Leser, der ein ausge­prägtes Interesse an der römischen Früh­zeit hat, stellt die Breite der Schilderung vor eine beachtliche Herausforderung. An mancher Stelle wünscht sich der Leser, daß die Kernproblematik auf einem begrenzte­ren Raum zusammengefaßt wäre. Zudem steht der Umfang des Bandes und sein Bestreben, eine Fülle von Einzelheiten genau zu klären, in einer gewissen Span­nung zu der Tatsache, daß der Autor weit­gehend darauf verzichtet, die Thematik in eine Skizze der institutionellen Genese des politischen Systems im frühen Roms ein­zubetten, wie z.B. die Entwicklung des Wahlsystems. Auch der entscheidende Umbruch mit der Etablierung einer Repu­blik in Rom wird nicht problematisiert. Der Autor hat sich also sowohl methodisch wie auch inhaltlich für eine extreme Kon­zentration bei der Aufarbeitung des Stoffes entschieden.
Angesichts der Tatsache, daß der Autor von einer weitgehend direkten Übernahme griechischer Organisationsstrukturen aus­geht, ist es zudem bedauerlich, daß die wesentlichen Differenzen in den gesell­schaftlichen und politischen Organisati­onsstrukturen zwischen Griechenland und Rom nur in einem beschränkten Maße problematisiert werden. Die prägende Kraft der römischen Monarchie, die starke Amtsgewalt der römischen Magistrate und die profunde Bedeutung langfristiger per­sonaler Beziehungen mit handlungsleiten­dem Charakter im öffentlichen Raum — all diese Abweichungen von der politischen Kultur Griechenlands werden bei der Darstellung der einfachen Übernahme von effizienten Organisationsstrukturen nicht ihrem vollen Gewicht entsprechend gewer­tet. Das frühe Rom scheint fest im Griff effizienzverliebter und modernistischer Planer gewesen zu sein. Wie die Bevölke­rung dazu bewogen werden konnte, künst­lich konstruierte Verwandtschaftsverhält­nisse im Rahmen der gentes zu akzeptier­ten, welche Spannungen bei der Aufnahme von externen Bevölkerungsteilen durch die Neuschaffung weiterer artifizieller gentes entstanden sind und welche leitenden gesellschaftlichen Kräfte — jenseits eines eher diffusen Effizienzstrebens — hinter diesen Veränderungen standen, wird im Buch nur bedingt erklärt. Rom war aber nicht Griechenland; zu Recht spricht Jo­chen Martin von »zwei Alten Geschichten«. Der kategorische Ausschluß eines weiter gefaßten komparativen Ansatzes, der auch ethnologische Modelle einbezieht, macht sich bei den angebotenen Lösungsperspek­tiven für diese Fragen schmerzlich be­merkbar.
Vor dem Hintergrund dieser Überle­gungen ist die Wirkung des Buches beim Leser ambivalent. Einerseits steht der hohe Respekt vor der stupenden Arbeitsleistung und dem unbedingten Willen, eine wichtige Phase der organisatorischen Evolution in der politischen Kultur Roms umfassend zu dokumentieren und zu erklären. In dieser Hinsicht hat das Buch Wesentliches geleis­tet und sich damit auch bleibende Ver­dienste erworben. Andererseits erscheint es äußert fraglich, ob auf der Basis einer simplen Übernahme von Organisations­strukturen aus Griechenland ein sinnvolles Gesamtbild der komplexen gesellschaftli­chen Entwicklung im frühen Rom entwor­fen werden kann. Der Weg in die »zweite Alte Geschichte« bedarf wohl eines diffe­renzierteren Ansatzes.
Bochum                                                                                                                          Bernhard Linke

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Tribus und Stadt

Die Entstehung der römischen Wahlbezirke im urbanen und mediterranen Kontext (ca. 750–450 v.Chr.)
Rieger, Michael

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