Rezension
Göttinger Tageblatt, 27. November 2010
Verbrechen im Duderstadt des 16. Jahrhunderts:
Messer in den Händen und Mist in der Brehme
Auch vor fast 500 Jahren war das tägliche Leben in Duderstadt nicht ganz frei von Spannungen. Da wurden zur Drohung Messer gezückt – aber nur sehr selten verwendet; manch ein Bäcker buk zu kleine Brötchen, die »nicht penniges werdt« waren.
Ein erboster Bürger kippte Mist in die Brehme, ein Nachbarschaftsstreit eskalierte, ein Wort gab das andere... Da fielen dann auch schon einmal Begriffe, die sich gegen die Ehre richteten. Heine Sommer beispielsweise nannte jemanden einen »Hundebruderen«, Hans Stounigk schimpfte – ganz un-Gentleman-like – die Frau seines Bruders eine »lundt hore«, eine landstreichende Hure.
Einen genauen Blick auf diese Alltags-Geschehnisse hat die Historikerin Heike Bilgenroth-Barke geworfen. In ihrem jüngst erschienenen Buch »Kriminalität und Zahlungsmoral im 16. Jahrhundert. Der Alltag in Duderstadt im Spiegel des Strafbuches« öffnet sie über das Studium einer vergessenen Quelle ein Fenster auf das Leben in der Brehmestadt und den umgebenden Ratsdörfern zu Beginn der Frühen Neuzeit.
16 Jahre lang (1530–46) hatte der Rat der Stadt in seinem Strafbuch notiert, über welche Vergehen er zu richten hatte. Die großen Vergehen, die Morde, die Taten, die mit einer Körperstrafe geahndet wurden, tauchen hier nicht auf, das sie nicht in die Ratszuständigkeit fielen. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sie sehr häufig durchgesetzt wurden. Denn – und das betont auch die Göttinger Historikerin – das Mittelalter war bei weitem nicht so finster, wie es bisher oft gezeichnet wurde. Die Folterwerkzeuge, blutige Hinrichtungen, abgeschlagenen Hände, Füße, Finger – das alles gab es sicherlich in der Welt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Doch die Regel war es nicht. Vielmehr suchte das Recht dieser Zeit in seiner Umsetzung den Ausgleich, die Sühne durch Geldstrafen, den Straferlass. Wobei die Geldstrafen sowohl an den Geschädigten als auch an den Rat der Stadt zu zahlen waren. »Das hieß aber wohl nicht, dass die Stadtoberen ein Interesse an Konflikten hatten«, meint der Duderstädter Stadtarchivar Dieter Wagner. Dafür waren die Einnahmen aus dem Prozessen zu gering.
Hier, im Stadtarchiv, lagert das Strafbuch, dessen Inhalt Bilgenroth-Barke in mühevoller Arbeit und mit tatkräftiger Archivarshilfe erst zu lesen lernen musste. 3105 Vergehen sind verzeichnet – zahlenmäßige Rückschlüsse über die Häufigkeit bestimmter Delikte lassen sich jedoch nicht anstellen. Dafür seien die Eintragungen zu lückenhaft und wenig, so die 41-jährige, die den für ihre Magisterarbeit verfassten Text für die Veröffentlichung stark überarbeitet und aktualisiert hat.
Mehr als ein (seltener) Totschlag wurde vor dem Ratsgericht der Ackerbürgerstadt mit 3500 Einwohnern nicht verhandelt. Das heißt, das Buch bildet keine spektakulären Ausnahmefälle ab, sondern vielmehr das, was viel häufiger im Leben der Menschen auftauchte: Die Nickeligkeiten und Reibungsflächen des Alltags in einer historischen Momentaufnahme.
Dazu gehörte beispielsweise das Delikt des zu wilden Tanzens. »Es musste gesittet zugehen«, sagt Bilgenroth-Barke. Warum das als strafwürdig angesehen wurde, darüber geben weder das Strafbuch noch die städtischen Statuten Auskunft.
Für Duderstädter interessant – neben der gut lesbaren, informativen Darstellung der historischen Gegebenheiten – ist das Personenregister, sagt die Historikerin. So kann jeder nachvollziehen, was seine Vorfahren in der Vergangenheit so ausgefressen haben.
Grundsätzlich sind die Vergehen mit vielem vergleichbar, was heute vor sich geht. Schließlich feierte man schon damals die gleichen Feste: Hochzeiten oder auch Karneval. Nur Müll wird – im großen Stil – inzwischen eher selten in die Brehme geschüttet. Ein grundsätzlicher Unterschied liegt vielleicht in der Rechtswirklichkeit. Oder wie es die Historikerin formuliert: »Die vormoderne Gesellschaft... zeichnet sich durch ein hohes Maß an Konflikthaftigkeit, aber auch an Konfliktfähigkeit aus.« Vielleicht eine Eigenschaft, von der man sich in Zeiten ständig steigender Prozesszahlen und zunehmender Regulierungen ein kleines Brötchen abschneiden könnte.
Erik Westermann