Rezension
Zeitschrift für Evangelische Ethik, 53. Jg. 2009
Nur wenige Wochen, bevor der Rat der EKD im Oktober 2007 die neue Friedensdenkschrift »Aus Gottes Frieden leben, für gerechten Frieden sorgen« herausbrachte, erschien die Schrift von Bernd Kirchschlager zu Kirche und Friedenspolitik nach dem 11. September 2001, die im Juli 2007 von der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen worden war. Die von K. selbst angemahnte neue Denkschrift handelt die Friedensthematik im Kontext der Leitperspektive des gerechten Friedens umfassend ab. Während K. aber die kirchlichen Absagen an die Lehren vom gerechten Krieg als unsachgemäß und falsch kritisiert, begründet die neue Friedensdenkschrift, warum die Lehre vom gerechten Krieg in der Friedensethik keinen Platz mehr hat.
K. hat zum Ziel, die Stellungnahmen der ‒ institutionell definierten ‒ Kirchen zur Friedenspolitik nach dem 11. September 2001 zu analysieren. Der 11. September gilt dem Autor als entscheidendes Datum und Grenzziehung für seine Arbeit, »denn seit den Terroranschlagen in den USA und dem danach ausgerufenen war on terror steht auch die friedensethische Diskussion in den Kirchen vor ganz neuen Herausforderungen, die bereits durch die geopolitischen Veränderungen seit dem Ende des »kalten Krieges« ausgelöst wurden. In Frage steht, ob die in Zeiten der wechselseitigen atomaren Bedrohung der Militärblöcke in West und Ost entwickelten friedensethischen Konzepte noch leistungsfähig sind angesichts global auftretenden nichtstaatlichen Terrors« (12). Woran die »Leistungsfähigkeit« friedenspolitischer Konzepte geprüft werden solI, wird nicht erläutert, aber herausgestellt, dass »Kontinuität und Veränderung in den kirchlichen Äußerungen seit 2001 im Focus« (12) der Untersuchung stünden. Dabei wird betont, dass nach »Interferenzen zwischen politisch-kulturellem Hintergrund und der Wirkmächtigkeit religiöser und theologischer Traditionen« gefragt werden soll (12f). So bleibt es unentschieden, ob es K. eher um eine Art wissenssoziologischer Frage mit dem Ziel der »Beschreibung der Interdependenzen von religiösen und kulturellen Faktoren bei der Deutung von Konflikten« (19f) geht oder aber um eine Bewertung der Erfüllung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags.
Der Band beginnt mit zwei knappen Kapiteln, in denen einige Stichworte zum Verhältnis zwischen Kirche und Politik in der deutschen Tradition benannt werden. Für die nachfolgenden Darlegungen bedeutsam ist vor allem der Bezug auf die sogenannte »Denkschriften-Denkschrift« von 1970, zu der allerdings wiederum 2008 eine neue Denkschrift unter dem Titel »Das rechte Wort zur rechten Zeit« erschienen ist. Die von K. besonders hervorgehobene Schrift- und Sachgemäßheit gehört auch in der neuen Denkschrift zu den zentralen Anforderungen an kirchliche Verlautbarungen. Neu ist dort die Unterscheidung von seelsorgerlich-pastoraler und sozialethisch-politischer Redeweise, auch wenn diese nicht bei alIen Themen klar voneinander zu trennen sei.
In der in Kapite13 vorgenommenen Skizze relevanter Texte zum Verhältnis von Kirche und Frieden in Spätantike, Mittelalter, Reformation und Neuzeit behandelt der Autor auch die Lehren vom gerechten Krieg und beschreibt im Zusammenhang mit dem ius ad bellum der frühen Neuzeit, aber mit Ausgriff auf die Gegenwart, die in diesen Lehren enthaltenen Prüfkriterien der causa justa, der legitima potestas, der recta intentio, der ultima ratio, des debitus modus und einer Aussicht auf Erfolg (77f). Dabei verkennt K., der sich hier auf M. Haspel und seine Rezeption bestimmter US-amerikanischer Debatten stützt, dass es heute keine Lehre vom gerechten Krieg allgemeiner Geltungskraft mehr geben kann. Gerade sein Hinweis auf das Völkerrecht des Hugo Grotius hätte erkennen lassen müssen, dass spätestens seit Gründung der UNO nach dem Zweiten Weltkrieg keine völkerrechtliche Basis mehr für eine Lehre vom gerechten Krieg existiert. Wenn heute aus friedensethischer Sicht Fragen an den Gebrauch militärischer Gewalt gerichtet werden, die den in verschiedenen bellum-justum-Lehren formulierten Kriterien entsprechen, bedarf es dazu nicht der Neubelebung einer wie auch immer gearteten Lehre von gerechten Krieg, sondern vielmehr der Klärung, wie in einer Lehre vom gerechten Frieden der Einsatz rechtserhaltender Gewalt denkbar und bewertet werden kann (dies versucht die neue Friedensdenk- schrift im 3. Kapitel). K.s Kritik der Absage an eine Lehre vom gerechten Krieg in »Schritte auf dem Weg zum Frieden« von 1994 und seine Kritik an kirchlichen Äußerungen, die in konkreten Einsätzen militärischer Gewalt auf die Nichteinhaltung des einen oder anderen Prüfkriteriums ohne Referenz auf eine Lehre vom gerechten Krieg hinweisen, ignoriert die normative Bedeutung des Völkerrechts und der mit ihm verknüpften universalen internationalen Organisationen.
Die Stärke des Bandes liegt im möglichst vollständigen Zusammentragen aller verfügbaren offiziellen Erklärungen vonseiten der EKD, der VELKD, des Reformierten Bundes, des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, der Deutschen Bischofskonferenz, aber auch von Landeskirchen und Synoden u.a.m. Auf etwa 170Seiten werden zunächst kirchliche Äußerungen bis zum Ende des Kalten Kriegs, sodann die kirchlichen Verlautbarungen der EKD und der katholischen Kirche in Deutschland bis zu den Anschlägen des 11. September 2001 skizziert, um in der Folge die kirchlichen Reaktionen auf die Anschläge des 11. September 2001, den Krieg in Afghanistan, die Zuspitzung der Krise um den Irak sowie den Irak-Krieg zu behandeln. Auf dieser Basis werden in einem sehr knappen Resümee am Ende die Differenzen zwischen Ost und West, zwischen lutherischen und reformierten Stellungnahmen sowie zwischen verschiedenen Amtsträgern gleicher Konfession und im Zeitvergleich insbesondere auch inhaltliche Veränderungen der ‒ tendenziell kritischer werdenden ‒ Stellungnahmen festgestellt. In seiner Bewertung hebt K. allerdings vor allem auf die tendenziell kritischeren Urteile über militärische Einsatze unter dem Gesichtspunkt mangelnder Konsistenz mit früheren Verlautbarungen ab. Hier zeigt sich die analytische Beschränktheit eines Versuchs, kirchliche Äußerungen zu Krieg und Frieden bewerten zu wollen, ohne auch Erkenntnisse der interdisziplinaren Friedensforschung zu nutzen. Ohne eine Aufnahme systematischer Fragestellungen und Ergebnisse der Friedensforschung, z.B. zur Kritik der nuklearen Abschreckung, zur Rüstungsdynamik, zur Kriegsursachenforschung, zur sozio-ökonomischen Entwicklungsproblematik, zum völkerrechtlichen Verständnis eingeschränkter Souveränität der Staaten und zu Friedensursachen und ziviler Konfliktbearbeitung, kann es kaum zu einer sachgemäßen Bewertung kirchlicher Verlautbarungen zu konkreten Friedensproblemen kommen, z.B. hinsichtlich aktueller Anwendungen von Kriterien, die auch in den verschiedenen bellum-justum-Lehren enthalten waren, oder hinsichtlich der vom Kriegs- und Gewaltverbot der UNO-Charta geprägten und völkerrechtlich gebotenen Situation in der Welt. Eine formale Prüfung der Konsistenz von Lageeinschätzungen bekommt nicht in den Blick, dass es in Öffentlichkeit und Forschung, in der Kirche und bei politischen Entscheidungsträgern glücklicherweise auch politische Lernprozesse gibt (wobei K. um dieser Lernprozesse willen zuzustimmen ist, dass neue friedensethische Urteile hinreichend begründet sein solIten).
K. hebt am Ende hervor, wie wünschenswert kirchliche Äußerungen mit Blick auf die prima ratio zur Kriegsprävention seien. Hier ist ihm voll zuzustimmen. Die neue Friedensdenkschrift, die der Autor noch nicht berücksichtigen konnte, hat sich mit dem Leitbild des gerechten Friedens eben dies zum Ziel gesetzt. Doch kann keine Denkschrift verhindern, dass konkrete friedenspolitische Lageeinschätzungen verschiedener kirchlicher AmtsträgerInnen und Christenmenschen verschieden ausfallen können.
Eva Senghaas-Knobloch