Rezension
ZBV 1-2/2006
»Hagen Weiler hat sich aus unterschiedlichem Blickwinkel und mit wechselnden Fragestellungen immer wieder mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Unterricht in den staatlichen Schulen, insbesondere in den Fächern Politik, Sozialkunde, Religion und Ethik, befasst. Von seinen zahlreichen einschlägigen Publikationen seinen an dieser Stelle genannt: "Politische Erziehung oder sozialwissenschaftlicher Unterricht?" (1985); "Der politische Bildungsauftrag der staatlichen Schule im Sinne des Grundgesetzes" (1989); "Ethisches Urteilen oder Erziehung zur Moral?" (1992) und "Religion und Ethik im Unterricht" (1999). In seiner jüngsten, wiederum sehr umfangreichen Publikation "Erziehung ohne Indoktrination?" fasst er noch einmal die tragenden Gesichtspunkte seiner Kritik und seine wichtigsten Argumente zusammen. Wie stets unterwirft sich Weiler einem hohen wissenschafts-didaktischen Anspruch; er ist bestrebt, seine Leser im Argumentationsprozess "mitzunehmen". Eingangs expliziert er deshalb seinen Gegenstand und die von ihm verwendeten Kategorien, er benennt seine Kriterien und Adressaten und formuliert die Hypothesen und Leitfragen seiner Streitschrift; ausführlich beschreibt er seine Vorgehensweise und argumentative Methode.
Worum geht es Weiler? Wie schon in seinen früheren Arbeiten wendet er sich gegen den traditionellen Anspruch des öffentlichen Schulwesens, durch Lernziele in Verfassungen, Schulgesetzen und Rahmenbestimmungen die Schüler zu bestimmten "Orientierungen", "Einstellungen", "Bereitschaften" und "Wertungen" zu erziehen. Weiler bekämpft aufs Neue, was er den "Kern der staatlich-schulischen Erziehungs-Anmaßung" nennt. Er beansprucht für sich, als Einziger die radikal-konsequente Alternative wissenschaftlich begründeter, erziehungsfreier sowie werte- und zieloffener Bildung über alle gesellschaftlchen Grundlagenkontroversen hinweg zu vertreten. Um seine "Gegner" zu widerlegen, bedient er sich einer schon mehrfach angewendeten Diskursform: Er belegt die seines Erachtens entscheidenden, von ihm angegriffenen Sätze oder Satzsequenzen in direkter Originalsprache, um sie in der Gegenrede mit seinen Argumenten widerlegen zu könen. Diese Verfahrensweise erfüllt die Gebote der Logik, Transparenz und Nachvollziehbarkeit, erfordert allerdings ein außerordentliches Maß an Geduld, weil die Texte entsprechend umfangreich, die Diskurse lang und der Zeitbedarf für die Lektüre groß sind.
Weiler geht in seinem Band zweigleisig vor. Im ersten großen Kapitel (S. 39 bis 247) geht es ihm um die Entwicklung seiner eigenen Argumentationsstruktur. Dazu befasst es sich zuerst mit dem Erziehungs- oder dem Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen anhand ausgewählter Landesverfassungen und Schulgesetze; danach wendet er sich den (Beamten-) Pflichten und Rechten der Lehrkräfte zu, um sich abschließend mit Fragen der grundrechtslogischen Verfassungssystematik zu befassen. Sein zweites Hauptkapitel (S. 24-546) widmet er der Widerlegung der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erziehungsauftrag der Schulen (z.B. Förderstufen-, Sexualkunde-, Gemeinsschaftsschul-, Schulgebets-, Kruzufix-, und Kopftuchurteile) und siebzehn ausgewählten Autoren bzw. Schriften zum Schulverfassungsrecht. Die Streitschrift endet mit einer Reihe von Thesen. Deren Kern lässt sich wie folt zusammenfasse: Das Grundgesetz enthalte keine Grundwerte; ein eigenständiges Erziehungsrecht stehe dem Staat und damit der öffentlichen Schule nicht zu - die Abteilung eines solchen Rechts aus dem Grundgesetz sein sowohl grundrechtslogisch wie verfassungssystematisch unhaltbar; allein ein werteoffener wissenschaftlich-didaktisch begründeter und nicht-erziehender Unterricht sei zulässig; das Indoktrinationsverbot beziehe sich auf alle inhaltlichen Lehr- und Lernziele, soweit sie weltanschauliche, religiöse, moralische oder wissenschaftliche Streitfragen entscheiden; die Vermittlung von Einsichten, Orientierungen, Wertungen und "Bereitschaften" sei deshalb unzulässig.«
Lutz R. Reuter