Rezension
Theologische Revue 03/2018
Der Sammelband zu Ehren des 75. Geburtstags von Ekkehard Mühlenberg, Doyen einer dezidiert theologisch ansetzenden Schule in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, kreist um prinzipielle Fragen christlich-kirchlicher Historiographie von der Spätantike bis in die Gegenwart. Den Beiträgen, überwiegend in Form von Fallstudien, sind locker drei Leitperspektiven zugeordnet: es geht um theologische Entstehungskontexte christlicher Geschichtsschreibung, um das Verhältnis von theologischem Wahrheitsanspruch und persönlicher Erfahrung sowie um die Rolle individueller theologischer Urteilsfähigkeit bei der Auseinandersetzung mit kirchengeschichtlichen Phänomenen. Ein abschließendes »Gespräch« des Lehrstuhlinhabers Peter Gemeinhardt mit seinen Vorgängern Hermann Dörries, Carl Andresen und Mühlenberg selbst (267–287) bietet angesichts einer derzeit etwas erschlafften Positionsdebatte innerhalb der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung interessante Perspektiven auf eine Tradition, die sich eine spezifisch theologische Definition ihres Untersuchungsobjekts »Kirche« jeweils nicht nehmen ließ. Gemeinhardts eigene Formel, die Kirchengeschichtsschreibung beziehe sich auf die »Institutionalität des Christlichen in seiner geschichtlichen Pluralität« (291) ist freilich, der Distanzierung des Vf.s zum Trotz, eine Variation des Ansatzes von Albrecht Beutel (»Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen«), die im Fach zu Recht seit ca. 15 Jahren als eine Art kleinster gemeinsamer programmatischer Nenner gelten kann.
Unter den zahlreichen Beiträgen des Bandes, die hier nicht sämtlich besprochen werden können, ragen einige heraus: Hanns Christof Brennecke gibt einen vergleichenden Überblick über die Proömien der spätantiken Kirchengeschichte von Euseb bis Evagrius (31–80). Aufbauend auf präzisen Textexegesen zeigt er, wie Euseb durch seine Verbindung von philosophischer Theorie mit historisch-chronistischer Praxis ein neues historiographisches Genre schafft (39), das durch die breite Phalanx seiner Nachfolger immer weiter differenziert wird, wobei Sokrates mit seinen Überlegungen zum Verhältnis von Profan- und Kirchengeschichte eine weitere Epoche markiert (56). Klar und übersichtlich fasst Brenneckes Aufsatz den Forschungsstand des Gesamtfeldes zusammen – künftig eine Pflichtlektüre bei der Vorbereitung historiographiegeschichtlicher Proseminare.
Anschließend an frühere Forschungen liefert Martin Ohst eine weitere Fallstudie zur aufklärerischen Dogmengeschichtsschreibung (100–124): Er untersucht Johann Salomo Semlers 1775 erschienene kommentierte Edition von Quellen zur ersten Phase des pelagianischen Streits. Während der Neologe die kritisch-philologischen Standards der neuen Historiographie noch freimütig ignorieren konnte, urteilte er inhaltlich auf der Basis einer selbständig gewonnenen Geschichtshermeneutik, die den Religionsbegriff in den Mittelpunkt stellte und zumindest prinzipiell das Eigenrecht aller historischen Formen des Christentums achtete (104). Mit seiner Edition wollte Semler Pelagius sowohl in der Argumentationslogik von dessen eigenem historischen Kontext als auch nach Maßstäben nachreformatorischen Christentums vom Häresievorwurf entlasten. Ohst arbeitet diese doppelte und in sich nicht widerspruchsfreie Zielsetzung überzeugend heraus; zu fragen ist allerdings, ob die »penetrant advokatorische Attitüde« (107), die Semler bei seiner kontextgebundenen Argumentation an den Tag legt, tatsächlich noch Auswuchs einer vermeintlich überwundenen konfessionalistischen Polemik ist oder ob nicht gerade die spielerische Einfühlung in die pelagianische Position ein spezifisch modernes Element darstellt, in dem die Anerkennung der Kontextgebundenheit jedes historiographischen Ansatzes durch die historistische Hermeneutik vorweggenommen wird. Die bewusste Identifikation des Hallenser Aufklärers mit seinem Untersuchungsobjekt Pelagius (113) macht freilich das Verständnis für die augustinische Seite unmöglich, die auf ihre ekklesiologischen Topoi verkürzt wird. Semlers Beitrag zu einer kritischen Kirchengeschichtsschreibung, die den römischen Katholizitätsanspruch materialiter durch die historische Rekonstruktion von Häretisierungsprozessen zurückweist, wird in jedem Fall überaus plastisch.
Die englische Frühaufklärung nimmt Christopher Voigt-Goy mit einer substantiellen Einführung in William Perkins’ Gewissenskasuistik anhand der Eidfrage in den Blick (245–264). Auch Voigt-Goy kultiviert den altmodischen und sympathischen Ansatz einer Theologie- als Ideengeschichte, die akribische argumentative Rekonstruktion mit einem Blick für historische Kontexte und intellektuelle Entwicklungs-dynamiken verbindet und dabei stets echte Fragestellungen mitbringt. Gern hätte man noch mehr über den rechtshistorischen Hintergrund erfahren, v. a. inwiefern der im römischen Recht übliche Kalumnien-(Gefährde-)Eid dem von Perkins bekämpften Voreid entsprach, was dem Konflikt unter Umständen auch einen kulturtransferspezifischen Aspekt verleiht (257).
Bernhard Neuschäfer widmet sich abermals Augustin, mit beeindruckendem Zugriff auf das Gesamtwerk. Den wechselnden Umgang des Kirchenlehrers mit seiner manichäischen Vergangenheit erklärt Neuschäfer mit Rekurs auf unterschiedliche rhetorische Genera, die jeweils Augustins Argumentation zugrunde liegen (127–149). Joachim Ringleben entwickelt aus der von Augustin verwendeten Metapher des schöpferischen Anstoßes (ictus) eine geistesgeschichtlich weitgespannte Meditation (150–164).
Thomas Graumann steuert einen anregenden Beitrag zum Thema »Polemikkultur« bei: Mit einem Fokus auf der Konzilienkritik Gregors von Nazianz skizziert er eine Phänomenologie der Legitimitätskriterien kirchlicher Synoden – die sich keineswegs auf Hierarchien und Verfahren beschränken, sondern auch soziale (Herkunft, Seniorität) und kulturelle Aspekte (Bildung) umfassen. Sicherlich steht Gregors Fundamentalkritik an der synodalen Entscheidungsfindung in Spannung zur Idee einer Legitimation durch Verfahren (94); dennoch könnte der auf Luhmanns Systemtheorie aufruhende aktuelle Diskurs zu vor-modernen Verfahren, gerade auch unter Einbeziehung von Bourdieus Kapitalsortentheorie (96), ein guter Gesprächspartner für den von Graumann vorgestellten Ansatz sein.
Eine Fleißarbeit stellt der Beitrag von Ute Mennecke zum Streit um die Authentizität des Wormser Lutherdiktums dar (215–244): Einer umfassenden Darstellung der Überlieferungstraditionen anhand der wohlvertrauten Sekundärliteratur bzw. der gängigen Editionen folgt die anhand semantischer Überlegungen entwickelte These, dass das deutsche »Hier stehe ich ...«-Zitat als exakte Wiedergabe der lateinischen Widerrufsverweigerung zu verstehen sei (236). Bei aller Gediegenheit steht dieser Aufsatz auch beispielhaft für ein kirchengeschichtliches Suchen nach einer historischen »Wahrheit«, das eng um ein definiertes Corpus immer gleicher Texte kreist und damit bei allgemeinhistorischen Fachkollegen – deren Vorgänger sich vor 150 Jahren noch engagiert an entsprechenden Diskussionen beteiligten – Befremden oder womöglich auch nur mehr Langeweile auslöst. Angemerkt sei, dass sich der Bildhauer Ernst Rietschel bei der Konzeption seines Wormser Lutherdenkmals vom Historienmaler Gustav König und vom Theologen Christian Josias Bunsen, v. a. aber von dem mit ihm befreundeten Kirchenhistoriker Karl Hase intensiv beraten ließ (zu 225, Anm. 51).
Johannes Wischmeyer