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Rezension

Das Unruhewerk, 20.10.2016

Für mich stand immer fest: Kirche ist und war in Europa – bei allen Brüchen, Fehlern und sogar Verbrechen – eine unverbrüchlich Identität stiftende spirituelle, kulturelle und sozial wie gesellschaftlich, manchmal sogar politisch relevante Größe. Das hat einerseits mit meiner eigenen Sozialisation zu tun – von evangelischem Kindergarten bis Gymnasium -, andererseits mit meinem Studium unter anderem der Philosophie und Geschichte. Dass und warum »die Kirche« – zu der ja auch Diakonie und Caritas mit all ihren Hilfsangeboten gehören –  mit der ihr sozusagen »von Natur aus« zugrunde liegenden einzigartigen Stellung in unserer Gesellschaft all den Prozessen von Ungerechtigkeit, Kriegen, Konsumdenken, Egoismus etc. so selten entschieden Paroli bietet, etwa nach dem Motto: »Wir stehen für ein ANDERES Leben!«, das  habe ich noch nie verstanden. Ich weiß nur: Sie könnte es. Und tut es viel zu selten. Doch das ist ein Thema, für das ich hier gar nicht genug Platz finden würde…
Tatsache ist: Ich war und bin froh und glücklich, 15 Jahre als stellvertretende Leiterin der Pressestelle für einen großen evangelischen Verband gearbeitet zu haben. Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit sind nun mal »mein Thema«. Aus dieser Zeit kenne ich auch Cornelia Coenen-Marx. Sie war immer so etwas wie ein Vorbild für mich: ihre unglaubliche Vernetzungsfähigkeit – schon in einer Zeit, als die Definition von »Vernetzung« im Sinne einer unverzichtbaren Fähigkeit der Kommunikation noch in den Kinderschuhen steckte -, ihre Neugierde und der Mut, immer wieder Neues zu wagen, all das hat mich damals schon beeindruckt. Ganz zu schweigen von den überaus zahlreichen, engagierten Büchern, Sachtexten, Rundfunksendungen, der redaktionellen Mitarbeit an fast allen wichtigen Kommunikations-Schaltstellen evangelischer Kirche. Und der Tatsache, dass sie all das tat, obwohl (ja, Absicht!) sie eine Frau ist in einer – zumindest in den »oberen Rängen« – leider immer noch stark männlich geprägten Welt …
Man könnte auch sagen: Sie hat sich immer gekümmert. Ja, sie ist Theologin. Das erwartet man von einer Pfarrerin. Aber das Ausmaß des »Kümmerns« ist bei Cornelia Coenen-Marx durchaus größer als üblich. Davon zeugt auch die Tatsache, dass sie heute mit ihrer Agentur Seele und Sorge noch immer Workshops und Beratung anbietet – obwohl die 1952 geborene Oberkirchenrätin eigentlich schon im Ruhestand ist. Dort bietet sie – nur ein Beispiel der breiten Angebotspalette – etwa diakonische Pilgerreisen zu Kraftorten an.
Ihr Haupt-Thema aber sind Übergangssituationen, Aufbrüche und Umbrüche. Genau dazu ist soeben ihr neues Buch erschienen: »Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation«.
Es ist fast quadratisch. Es ist umfangreich. Und gehaltvoll. Denn Coenen-Marx unternimmt hier nichts weniger als den Versuch, »die Kirche« (wohlgemerkt vorwiegend aus evangelischer Sicht) und den Menschen in ihr mit all seinen Befindlichkeiten, das Ganze dann auch noch in der Welt von heute plus einem Blick in die Zukunft zusammen zu denken.
Versuch? Ich gebe zu: Die ersten Seiten zu lesen fiel mir schwer. Denn das Buch geht vom Allgemeinen ins ganz Persönliche, Plastische, Konkrete. Das Thema ist groß, sehr groß: »Christsein und Kirche in der Transformation«. Da müssen erst einmal Rahmenbedingungen genannt werden, da muss Bestandsaufnahme gemacht werden. Ohne Frage notwendig. Und vermutlich bin ich nicht die »klassische Leserin« – für mich waren das schlicht Fakten, die ich schon kannte. Doch dort, wo sie beginnt, persönlich zu werden, wo sie vom Scheitern, von »Umzügen und Neuanfängen«, vom »Potenzial des Älterwerdens«, von Wendepunkten und »Eigenzeit“, von der »wirklichen Berufung«, von »sorgenden Gemeinschaften«, »Sehnsuchtszielen«, der »Diakonie im Quartier«, der Arbeitswelt von heute, dem »Ja- und Nein-Sagen« schreibt, da hatte sie mich ganz schnell gepackt: Nein, kein Versuch, sondern rundum gelungen. Wohlgemerkt: Sie erzählt dabei keineswegs die ganze Zeit von sich, sie spricht von ihren Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnissen aus all den Einblicken in zahlreiche, ganz unterschiedliche gesellschaftliche Realitäten, die sie wirklich in ihrem überaus facettenreichen Leben hatte. Das hat – zumindest für mich – ganz schnell gleichzeitig universelle Gültigkeit UND einen sehr persönlichen Bezug zu meinem Leben, der Realität, wie auch ich sie täglich sehe, wahrnehme. Zu dem, was auch mir aufstößt, mich wundert oder gar verletzt.
Und dann geschieht etwas Wundersames: Sie schafft es mit diesem schier unmöglich großen (sprich: thematisch groß angelegten) Buch, mich zu trösten.
Kirche, ich, wir und die Gesellschaft
Dieses Buch ist kein Ratgeber, der nur einen kleinen Bereich meines Lebens in den Blick nimmt, es ist wirklich »ganzheitlich« – auch wenn dieser Begriff normalerweise anders gebraucht wird. Coenen-Marx schafft es nämlich, alle für mich wichtigen Bereiche des Themas gleichzeitig in den Blick zu nehmen: Kirche von innen, ihre Werte, Strukturen und Ziele. Und den Menschen in alledem: von seiner körperlichen bis zu seiner geistigen/spirituellen und gesellschaftlichen Realität.
Damit nicht genug, beschreibt sie auch noch, wo Kirche in ihrer Rolle, mit ihren Zielen und Aufgaben mit Blick auf die Gesellschaft wie auf andere Gemeinschaften steht, gleichzeitig universell wie ganz pragmatisch, mit vielen Best-Practice-Beispielen. Das aber keineswegs kritiklos: Mit Blick auf das »lebenswerte Miteinander im Quartier« sagt sie etwa: »Noch sind Kirchengemeinden zu selten in Netzwerken und Modellprojekten engagiert«. Oder mit Blick auf die Leistungen von Diakonie und Caritas: Wir haben uns zu lange nur auf »Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit konzentriert und über Religion, Ethik und Spiritualität oft geschwiegen – und damit möglicherweise Suchende allein gelassen.« Ganz wichtig ist: Die beiden Zitate stehen unter der Überschrift »Es ist alles schon da!« Damit meint sie »die Ressourcen der Kirche für die Bewältigung gesellschaftlicher Umbrüche.« Und genau das finde ich so tröstlich, besagt es doch, dass alle, die sich den Zielen von Kirche in irgendeiner Form verbunden fühlen, durchaus die Chance haben, die anstehenden Umbrüche gut zu bewältigen.
Die Formulierung »Kirche in irgendeiner Form verbunden« habe ich nicht zufällig gewählt, denn auch das ist Coenen-Marx wichtig: Dass Kirche ernst macht mit der biblischen Erkenntnis, dass »auch – und vielleicht gerade – die, die wir für schwach halten, eine Berufung mitbringen, die Welt zu gestalten.«
Umbrüche und Identität
Tröstlich sind aber natürlich noch viel mehr all jene Passagen, in denen es um den »Menschen an sich« geht. Jedenfalls mich tröstet es immer, zu wissen, dass meine eigenen Prozesse – des Umbruchs beispielsweise – sich in den größeren Umbruchsprozessen des biologischen Lebens (soll heißen: des Älterwerdens) ebenso spiegeln wie in den gesellschaftlichen Umbruchsituationen, in denen wir uns zweifelsohne jetzt (wie immer wieder) befinden. Dem geht Coenen-Marx auf allen Ebenen nach: Sei es, dass sie – mit Blick auf ihr eigenes Leben – schreibt: »wieder einmal geht es darum, ein altes Stück Identität loszulassen – eine gewohnte, vielleicht auch überlebte Rolle«. Die Identität aber kann für Coenen-Marx (wie übrigens auch für mich) nie wirklich verloren gehen, denn »Gottes Identität ist im Wandel – nicht anders als unsere«, sagt sie. Und meint das keineswegs konfrontativ, sieht sie doch zum Beispiel auch in den Stationen eines Pilgerwegs ein Abbild der Stationen jenes Wandels, dem wir selbst alle, wie vermutlich jedes Geschehen auf dieser Welt, auf die ein oder andre Weise unterworfen sind. Und von dem wir  – allein durch unsre Existenz – immer wieder Zeugnis ablegen. Ob wir das nun wollen oder nicht …
Sie wird noch viel konkreter, etwa in den Kapiteln »Gefühle ernst nehmen« – »den Körper wahrnehmen« – »die eigne Stimme finden« – »den Träumen auf der Spur« – »Ballast abwerfen und loslassen«. Und vielen mehr. Kann ich natürlich nicht alles nacherzählen … Bitte selber lesen!
Das ganz Große. Und das scheinbar Kleine
Ich denke, es ist schon spürbar geworden: Dieses Buch ist ein ganz besonderes Projekt. Ich jedenfalls kenne nur wenige Bücher, die sich so gekonnt wie elegant zwischen dem »ganz Großen« und dem scheinbar »ganz Kleinen« hin und her bewegen. Hier liegt auch die Erklärung für meine anfängliche Irritation auf den ersten Seiten. Die Erklärung ist simpel: Sie ist allein in der Art begründet, wie Coenen-Marx denkt. Sie hat alle Faktoren des vernetzten Denkens so sehr verinnerlicht und gleichzeitig ein so breites Fachwissen wie persönlich ausgereifte Statements, dass die notwendige Linearität eines Buches all diesen Faktoren gar nicht gerecht werden kann. So finden sich beispielsweise alle für mich wichtigen Passagen im hinteren Teil des Buches, so dass ich mich zunächst irritiert fragte, warum sie die nicht an den Anfang gestellt hat. Bis ich erkannte: Ich befinde mich mitten in einem gedanklichen Netzwerk mit so vielen internen Querverweisen, dass eigentlich nur ein Online-Projekt mit allen virtuellen Vernetzungsmöglichkeiten – sozusagen dreidimensional – diesem in sich vernetzten Gedankengut gerecht werden könnte. (Denn selbstverständlich spielen auch Internet und Soziale Netzwerke in den Gedanken der Cornelia Coenen-Marx eine Rolle …)
Transformationsprozesse. Oder: Ich bin nicht allein!
Dass dazu all die Lebenserfahrung einer 64-Jährigen gehört, ist der eine Aspekt. Dass es dabei um Kirche und Gesellschaft geht, der wohl viel wichtigere: Denn das Thema ist groß, geht uns alle an, ist genauso umfassend wie tief verwurzelt in unser aller (Seelen-)Biographie, zu der – ob wir nun Christ/in sind oder nicht – immer auch der »Transformationsprozess« gehört, dem wir als Person wie als Gesellschaft ausgesetzt sind. Diese universelle Definition von Transformation ist die eigentliche Klammer, die das Buch zusammenhält. Und da auch ich immer schon glaubte, dass jeder einzelne Mensch immer Teil eines größeren Ganzen ist/sein muss (das man natürlich nicht zwingend Gott nennen muss …), besteht der dritte Aspekt dafür, dass ich dieses Buch so tröstlich finde, eben genau darin – und die lautet knapp gefasst: Ich bin nicht allein.
Ein wirklich wichtiges Buch
Dieses Buch zwingt seine Leser/innen fast dazu, ihre eigene Biografie zu ihm (oder seiner Autorin) in Bezug zu setzen, wie ich das eingangs getan habe. Es beinhaltet unglaublich viele Aspekte – die einzeln gelesen oder eben als »großes Ganzes« gesehen werden können. Zu Fragen, die uns wirklich alle angehen. Sei es, weil wir älter werden, oder nicht wissen, wie wir mit Hilfsbedürftigkeit umgehen sollen, mit Armut oder »dem Fremden«, von der optimalen Nachbarschaft oder gleich einer »besseren Welt« träumen, noch immer keinen Weg gefunden haben, um unser vielleicht ganz verstecktes Bedürfnis nach Spiritualität zu leben, gern ehrenamtlich sinnvoll aktiv werden wollen, oder, oder … Jede/r von uns wird es vermutlich anders lesen. Und aus all diesen Gründen finde ich, dass es ein wirklich wichtiges Buch ist.
Maria Al-Mana

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Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Aufbrüche in Umbrüchen

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Aufbrüche in Umbrüchen

Christsein und Kirche in der Transformation
Coenen-Marx, Cornelia/Horn, Gustav A.

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