Rezension
Diakrisis 5/2013
»Es gibt sie also doch, die wahre Ökumene«, sagte der mittlerweile emeritierte Papst Benedikt XVI., als ihm das hier zu besprechende Buch überreicht wurde. Damit sind Intention, aber zugleich die bemerkenswerte Leistung dieses Bandes treffend benannt. Das Spektrum der Autoren umfasst das gesamte Feld im besten Sinne evangelischer, schriftgemäßer Theologie: Es reicht von der Pfingstlerin über den Methodisten bis zum profilierten Lutheraner. Dieser Band ist zugleich die erste derart umfassende und profunde Auseinandersetzung mit Ratzingers theologischem Lebenswerk aus nicht-katholischer Sicht. So entsteht unter der kundigen Herausgabe von Christoph Raedel ein schlankes Kompendium, das ins Zentrum des Denkens des bedeutenden Theologen auf dem Stuhl Petri führt und die wesentlichen Elemente seines Werkes von der Exegese über die Fundamentaltheologie und Dogmatik bis zu Ekklesiologie und Theologie der Religionen behandelt — mit vielfachen Konsequenzen für eine Ökumene aus der Wahrheit. Als der Band konzipiert wurde, war der Rücktritt von Benedikt XVI. noch nicht zu ahnen.
Am Beginn steht die Auseinandersetzung mit dem dreibändigen Jesus-Buch von Benedikt XVI. Roland Deines fokussiert seinen exegetischen Beitrag auf Benedikts zentrales Anliegen, den ›historischen‹ als den ›wirklichen‹ Jesus zu deuten. Ratzinger schneidet nicht, wie es einst Guardini getan hatte, den Faden der historisch-kritischen Exegese ab. Er fordert sie vielmehr grundsätzlich dadurch heraus, dass er, wie Deines subtil zeigt, die Jesusfor¬schung aus dem Ghetto der »Selbstbeschränkung der positiven Vernunft« lösen möchte. Ratzinger geht davon aus, dass der historische Jesus von Anfang an der Sohn Gottes des Vaters ist. Das Johannesevangelium gewinnt deshalb Schlüsselbedeutung für seine in tiefem Sinne evangelische Jesusdeutung. Anders gesagt: Glaube und Geschichte sind nicht voneinander ablösbar. Deines referiert und kategorisiert in hilfreicher Weise die Reaktionen professioneller Exegeten, und er zeigt, wie sich in der Kritik oftmals unbewusste Voraussetzzungen kaleidoskopartig artikulieren. Zu einer Debatte über die Voraussetzungen der historischen Kritik kam es aber nur selten. — In seinem brillanten exegetischen Beitrag zeigt sodann Rainer Riesner, wie Ratzingers Jesus-Bücher für eine schriftgegründete evangelische Exegese fruchtbar werden können. Er verschweigt nicht, dass Ratzinger Probleme offen lässt: Bewahrt er für die kanonische Exegese nur einen Restraum, den die historische Kritik zurücklässt? Zeigt er deren Grenzen fundamental genug auf? Positiv folgt er insbesondere der heilsgeschichtlichen Kontinuitätslinie, dem Zusammenhang des Christuszeugnisses mit dem Alten Bund, den Ratzinger stets im Blick hat.
Ulrike Treuschs Aufsatz über die Augustin-Rezeption Joseph Ratzingers zeigt, wie zentral der lateinische Kirchenvater für Ratzingers Selbstverständnis seit den Anfängen bis heute ist. Von der Dissertation bis in die Katechesen des Papstes wird deutlich, dass Augustinus Vorbild für Ratzinger ist: in Wahrheitserkenntnis, Wahrheitssuche und für ein Leben aus der Wahrheit. Daher enthält ihr Beitrag auch eindrückliche Bemerkungen zur Zentralposition der Wahrheitsfrage bei Ratzinger. Wahrheit hat ihren Grund- und Ankerpunkt bei Gott. Die Wahrheitsfrage ist »dem Menschen notwendig und betrifft gerade die Letztentscheidungen seines Daseins«.
Werner Neuer, einziger nichtkatholischer Gast in Benedikts Schülerkreis, stellt differenziert und kenntnisreich Ratzingers Theologie der Weltreligionen dar; ein Thema, zu dem schon der junge Professor, damals ganz ungewöhnlich, bereits in den fünfziger Jahren Lehrveranstaltungen abgehalten hatte. Neuer zeigt, dass für Ratzinger in Übereinstimmung mit den Reformatoren das alleinige und endgültige Heil in Christus liegt. Dies ist das Funda¬ment seiner Auseinandersetzung und Zwiesprache mit anderen Weltreligionen. Interreligiöser Dialog mit dem Ziel einer ›Vereinigung der Religionen‹ ist von hier her klar zurückzuweisen. Und ebenso verbietet sich ein Religionspluralismus, wie er von John Hick vertreten wurde. Unter Verzicht auf Wahrheit ist eine Religionsbegegnung für Ratzinger nicht möglich. Neuer legt in einer luziden Interpretation der Erklärung ›Dominus Iesus‹ auch im einzelnen dar, wie sich diese fundamentalen Einsichten im Jahr 2000 lehramtlich konkretisiert haben. Als Papst hat Benedikt XVI. daher deutlich erkennbare Modifizierungen an den interreligiösen Begegnungen vorgenommen, wie sie sein Vorgänger mit dem Friedensgebet in Assisi initiierte. Ein gemeinsames Gebet der Religionsvertreter hat es unter Benedikt nicht mehr gegeben.
Der Herausgeber des Bandes, Christoph Raedel, wendet sich der ethischen Dimension im Denken Joseph Ratzingers zu. Es wird deutlich, dass dabei das ›natürliche Sittengesetz‹, die Lex aeterna, neben der biblischen Offenbarung eine zentrale Bedeutung einnimmt. Raedel geht besonders der Auseinandersetzung Benedikts mit der Moderne und ihrem Säkularismus nach und arbeitet die ›Dialektik der Vernunft‹ und die ›Dialektik der Freiheit‹ heraus, die nach Ratzinger erst im Licht ihrer Begrenzung und Formung durch die Fleisch gewordene Wahrheit und Freiheit in Jesus Christus überwun¬den werden können. So ist sein Denken an keiner Stelle auf den Regress in vormoderne Muster misszuverstehen. Es ist vielmehr Aufklärung der Moderne über sich selbst. Ratzinger ist es niemals in erster Linie um ethische Kasuistik und auch nicht um abstrakte Normativität gegangen, sondern um die Freilegung des geschichtlichen und zugleich theologischen Grundes des Ethos. Daher verweist für ihn Ethik auf Heilsgeschichte und die Kirche als »Raum der Wahrheit in Liebe« zurück. Man muss heute durch zunehmende Adaptionen der evangelischen Kirchen an den Zeitgeist ein Verblassen des gemeinsamen Wahrheitsfundamentes der christlichen Kirchen konstatieren; etwa im Feld des Lebensschutzes oder der PID hat dies gravierende Folgen. Umso wesentlicher ist es, dass Raedel fundiert über die Möglichkeit einer gemeinsamen Begründung christlicher Wahrheit nachdenkt. Dieser Ansatz wäre auf das Gespräch mit säkularen philosophischen Ethiken zu erweitern; vor allem aber als christliche Stimme im ethischen Pluralismus der modernen Welt zur Geltung zu bringen.
Cheryl Bridges Johns zeigt in ihrem Beitrag kenntnisreich und temperamentvoll die mit Benedikt XVI. geteilte gemeinsame Leidenschaft für die Wahrheit und die Kirche als Leib Christi. Sie bezeugt und reflektiert eindrücklich und für den freikirchlichen Bereich durchaus bahnbrechend die Nähe aus der pneumatisch verstandenen Mitte in Christus: das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zur UNA SANCTA kann daraus auch in Freikirchen neue, dringend benötigte Impulse gewinnen. Umgekehrt ist die römisch-katholische Situierung von Pfingstgemeinden als ›Sekten‹ zu korrigieren.
Eines der Glanzstücke des Bandes ist Geoffrey Wainwrights brillante und kenntnisreiche Studie über die Liturgie als performative Überwindung jener »Diktatur des Relativismus«, die Ratzinger erstmals 1987 in einer Gastvorlesung in Eichstätt und dann mit großer Resonanz am Vorabend des Konklaves konstatiert hatte, aus dem er als Papst hervorging. Der namhafte methodistische Theologe zeigt, indem er differenziert Ratzingers ›Geist der Liturgie‹ nachgeht, dass Ekklesiologie wesentlich von der Liturgie her zu denken ist: als heilsgeschichtliches Kontinuum mit der ›Communio sanctorum‹, aber auch als Zeichen der Schönheit und Formung der abendländischen Kultur — und nicht zuletzt als Vorbereitung auf die universale Erwartung des Heils. Damit nähert sich Wainwright dem Glanz der Wahrheit (›Veritatis splendor‹), und zugleich plädiert er indirekt für die aktuelle Notwendigkeit einer ›Christlichen Weltanschauung‹, wie sie Romano Guardini, ein Ratzinger sehr naher Denker entfaltet hatte. Es besteht nach Wainwright die Notwendigkeit, »jede menschliche Kultur, wo immer und wann immer sie zu finden ist, einer zur Unterscheidung fähigen Betrachtung aus christlicher Perspektive zu unterziehen«. Kurt Kardinal Koch, heute Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, antwortet auf die evangelischen Beiträge des Bandes: Er tut es nicht in Detaileinlassungen, sondern indem er ihre grundsätzliche Richtigkeit bestätigt und noch einmal aus inti¬mer Werkkenntnis auf die zentrale Bedeutung der Wahrheitsfrage für Benedikt XVI. hinweist. Es gehe dabei letztlich um die personale Einlösung der Wahrheit in Jesus Christus. Die Frage: ›Was ist Wahrheit‹, die Pontius Pilatus geradezu zynisch stellen konnte, wird so zur Werfrage. Bemerkenswert ist auch, dass Koch bei Papst Benedikt XVI. als das eigentliche ökumenische Problem die Verflechtung des Wortes Gottes mit dem Glauben der Kirche im Heiligen Geist begreift. Dies und nicht institutionelle Fragen, auch nicht die Ämterfrage wäre im Zentrum einer Ökumene aus der Wahrheit neu zu bedenken.
Der Band schließt mit einer Besinnung des Herausgebers über 3Joh 1,5?9, den Grundtext, der von den »Mitarbeitern der Wahrheit« spricht und dem damit für die Theologie Joseph Ratzingers größte Bedeutung zukommt. Kritisch an diesem herausragenden Band ist nur anzumerken, dass ein Personen- und Sachregister fehlt. Dies würde die symphonische Einheit in der Vielfalt der Stimmen noch besser erschließen.
Hier liegt ein Kompendium vor, das bleibend Denken und Handeln von Papst Benedikt XVI. würdigt und das zugleich Hoffnung für die Entwicklung einer theologisch fundierten Ökumene aus der Wahrheit gibt.
Harald Seubert