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Rezension

Ethik Med 2013

Die Bundesärztekammer (BÄK) wirkt als Standesvertretung der deutschen Ärzteschaft am Meinungsbildungsprozess zu gesundheitspolitischen Fragen mit. Dazu gehören auch ethische und berufsrechtliche Dimensionen. Die Verlautbarungen der BÄK bekamen im Laufe der mehr als 60-jährigen Geschichte wegweisende Funktion für die Ärzteschaft und wirkten in die öffentliche Debatte hinein.
Der Buchtitel weckt große Erwartungen. Der Autor, Theologe und Arzt, analysiert differenziert in der über 300-seitigen Darstellung, ergänzt durch über 500 Literaturtitel und einen 75-seitigen Anhang mit ausgewählten Stellungnahmen der BÄK, welche ethischen Grundlagen sich aus den Stellungnahmen der BÄK ableiten lassen (S. 58). Ein Personen- und Sachregister erleichtert die Suche nach Stichworten. Kliesch ist es hervorragend gelungen, Menschenbild und ethische Grundlagen aus den Handlungsorientierungen herauszuarbeiten. Dabei findet sich kein einheitliches philosophisch-ethisches Konzept, sondern eher eine Patchwork-Ethik (S. 74), die dennoch ärztliches Denken und Handeln in Deutschland wesentlich beeinflusst. Die Verlautbarungen sind weltanschaulich nicht neutral, sie wissen sich einem bestimmten Menschenbild verpflichtet, das vom Respekt vor allen Menschen, auch denen mit unterschiedlichen Behinderungen, geprägt ist, und spiegeln eine geschichtliche Situation wider.
Die Arbeit, 2011 als theologische Dissertation an der Uni Heidelberg angenommen, blickt aus theologischer Perspektive auf das Ethos der BÄK, das der Autor als »Set von Handlungsregeln« (S. 59) definiert. Theologisch meint hier nur den methodischen Umgang mit Texten und ethischen Analysen, keine inhaltliche Wertung. Die theologische Methodik ist durchgehend erkennbar. Die aus den biblischen Wissenschaften bekannte Textanalyse zeigt sich bis in den synoptischen Vergleich der Entwicklung einiger Verlautbarungen, die im Anhang wie Evangeliensynopsen nebeneinander gedruckt sind.
Die Positionen in den Verlautbarungen stellen einen wichtigen Ausschnitt ärztlicher Ethik in Deutschland dar (S. 74). Der Untertitel schränkt die Analyse auf zwei exempla-rische Bereiche ein, die sich durch die Geschichte der BÄK hindurchziehen, nämlich auf Lebensanfang und Lebensende. Angesichts der Fülle ethisch bedeutsamer Stellungnahmen der BÄK tut der Autor gut daran, sich auf den Schwerpunkt zu beschränken, ohne die Breite der Betrachtungen zu gefährden. Die exemplarischen Felder medizinethischer Fragen stellt Kliesch in einen historischen und gesellschaftlichen Rahmen, der von S. 18–52 die medizinethischen Problemfelder des Dritten Reiches, die Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg, die Besonderheiten in der DDR und die Strukturen und ethisch orientierten Gremien der Bundesärztekammer sowie vergleichbarer ärztlicher, politischer und kirchlicher Gremien umfasst.
Die Analyse der Verlautbarungen geschieht in je zwei Schritten. Zunächst stellt der Autor sie in den historischen Kontext, in den hinein sie veröffentlicht wurden, und lässt so manche Positionen und Entwicklungen der Textfassungen besser verstehen. Dabei greift er bei den Fragen des Schwangerschaftsabbruchs auf Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert zurück. Im zweiten Schritt arbeitet er mittels einer diachronen Textanalyse die Variationen in der zeitlichen Abfolge der Stellungnahmen heraus. Dabei wird der Blick auch immer wieder auf Positionen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
Beim Lebensanfang wird die Reproduktionsmedizin breit, der Schwangerschaftsabbruch hingegen nur kurz behandelt. Zum Schluss destilliert Kliesch die wesentlichen ethisch begründeten Ziele der von ihm analysierten Verlautbarungen heraus (S. 178 ff.). Dabei werden die Folgen für Vater- und Mutterschaft sowie die Schweigepflicht benannt.
Zum Abschnitt über die Stellungnahmen zum Lebensende gehört die synoptische Zusammenstellung der Texte zur Sterbebegleitung. Der Autor stellt verschiedene spektakuläre Prozesse und die daraus erfolgte Rechtsprechung dar, blickt auf Positionen anderer Gremien der Ärzteschaft und auch über die Grenzen Deutschlands hinaus, z. B. Niederlande oder Weltärztebund.
Zum Schluss vergleicht Kliesch das Ethos der BÄK mit evangelisch-kirchlichen Verlautbarungen. Die Berechtigung dazu sieht er, weil die Verlautbarungen nicht nur den Arzt verpflichten, sondern auch Allgemeingültigkeit beanspruchen, da sie Patienten und Gesellschaft einbeziehen. Kliesch versteht die ärztliche Ethik in den Texten der BÄK als »Mahnerin zur Vorsicht« (S. 291). Beim Vergleich mit den kirchlichen Positionen zeigt er Gemeinsamkeiten und Differenzen auf, findet aber »eine große Kongruenz von EKD und BÄK, die beide eine gewisse Sensibilität für das Individuelle aufrechterhalten« (S. 331).
Kliesch plädiert dafür, dass die BÄK in ihren Verlautbarungen auch auf die unterschiedlichen Positionen in der Ärzteschaft eingehen sollte. Im Unterschied zu den EKD-Papieren wird in den Verlautbarungen der BÄK ein Konsens vorgegeben, der so nicht besteht. »Dissense auszuklammern, kann nicht mehr als zeitgemäß gesehen werden« (S. 333).
Das Buch ist Ergebnis einer Fleißarbeit, die vielen Details nachgeht, zum Teil in den reichhaltigen Fußnoten, die das Lesen nicht belasten. Es ist bedeutend als historischer Überblick über die Entwicklung ethischer Positionen in der deutschen Ärzteschaft, liefert wichtige Argumente in der aktuellen Debatte und ist wegen der vielen Fakten auch als Nachschlagewerk für die angesprochenen Themen geeignet.
Fred Salomon

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Umschlagbild: Das Ethos der Bundesärztekammer

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Das Ethos der Bundesärztekammer

Eine Untersuchung ihrer Verlautbarungen zu Themen des Lebensanfangs und Lebensendes
Kliesch, Fabian

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